Hallo MT,
ich kann dir ein ganzes Stück weit sogar folgen. Vor allem die Tendenz in der modernen Erziehung, bereits Kleinkindern ellenlange Erklärungen zu liefern, anstatt ihnen klare Grenzen zu setzen, halte ich ebenfalls für problematisch. Ich erlebe zunehmend Kinder, die ganz hervorragend argumentieren können, warum sie sich daneben benommen haben/ bestimmte Dinge nicht tun konnten oder tun wollen, die aber nicht in der Lage sind, einer Anweisung Folge zu leisten oder ein Fehlverhalten einzugestehen. Sie haben hervorragend gelernt, sich rauszureden.
Dieser Umstand ist dem elterlichen Bestreben zu verdanken, vom Kind nicht als strafend-reglementierender Erziehender wahrgenommen zu werden, sondern stets verständnisvoller Partner sein zu können. Viele Eltern halten es nicht aus, gelegentlich bei ihren Kindern in Ungnade zu fallen.
Sie können es nicht ertragen, ihr Kind traurig, beleidigt, wütend oder trotzig zu erleben und versuchen, ihm jeden ihrer Handlungsschritte begreiflich zu machen. Sie vergessen dabei, dass sie eben nicht der beste Freund ihres Kindes sind, sondern als Eltern die Aufgabe haben, auch unbeliebte Entscheidungen zu treffen und zu vertreten, um ihr Kind tatsächlich erziehen zu können. Sie müssen Maßstäbe nicht nur setzen, sondern öfter auch durchsetzen.
Vor allem im Kleinkindalter müssen Kinder lernen, sich unterzuordnen. Sie müssen begreifen, was ein „Nein“ bedeutet und dass es unangenehme Konsequenzen hat, wenn sie sich diesem Nein widersetzen. Das dient nicht nur ihrer eigenen Sicherheit, sondern ist elementarer Bestandteil der erfolgreichen Teilnahme am sozialen Leben. Und hier gilt: „Was Hänschen nicht lernt…“.
Hat ein Kind erst einmal verinnerlicht, dass Grenzen grundsätzlich flexibel und diskutabel sind, wird es mit zunehmendem Alter und wachsenden kognitiven Fähigkeiten systematisch an der Erweiterung/ Abschaffung dieser Grenzen zu arbeiten. Das führt dazu, dass den Eltern spätestens zu Beginn der Pubertät die Möglichkeiten ausgehen, ihr Kind zu beeinflussen. Dass sie diesem frühzeitig beigebracht haben, unangenehmen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen, übersehen sie meist.
Ich gebe dir auch in dem Punkt Recht, dass manche Eltern mit Formen von psychischer Gewalt arbeiten, die massiver physischer Gewalt in nichts nachsteht. Von „Du machst die Mama aber ganz traurig“ bis hin zu Liebesentzug (wie nicht mehr mit dem Kind reden) ist die Bandbreite an emotionaler Erpressung riesig. Üblicherweise weisen Eltern, die sich so verhalten, eine solche aber weit von sich.
Dennoch: Ein körperlicher Übergriff verdeutlicht immer eins: Derjenige, der ihn vornimmt, hat die Macht, den anderen zu verletzen und tut es auch. Und deshalb ist der Lerneffekt beim Kind immer ein Doppelter: Der Gewollte ist, dass das Kind sich der Autorität fügt. Der Ungewollte ist, dass das Kind dieses Verhalten als erfolgreich erkennt und es seinerseits im sozialen Umgang anwendet. Da es ein Kind ist, fehlen ihm dabei möglicherweise Maß und Ziel. Und das kann Probleme nach sich ziehen, die man nicht übersehen sollte.
Ich habe meine vier Kinder nach heutigen Maßstäben eher streng erzogen. Bestimmte Freiheiten und Vertrauen in ihre Handlungs- und Einsichtsfähigkeit mussten sie sich durch ihr Verhalten erst verdienen. Dann erst wurden Grenzen und Regeln auch mal flexibel gehandhabt. Geschlagen habe ich sie nie.
Meine ganz persönliche Befürchtung beim Einsatz von körperlicher Gewalt ist, dass sie Eigendynamik entwickelt. Was bei einem Kleinkind als der von dir geschilderte Zwei-Finger-Klaps wirksam sein mag, wird bei einem 5-Jährigen möglicherweise schon nicht mehr ausreichen.
Was setzt man dann nach? Stellt man mit zunehmendem Alter den Einsatz von körperlicher Gewalt ein, weil man auf die wachsende Einsichtsfähigkeit des Kindes vertraut? Oder besteht nicht eher die Gefahr, dass man kräftiger zuhaut, um den Worten Nachdruck zu verleihen? Und wie ist das, wenn das Kind 8,9, 10 Jahre alt ist?
Ich persönlich hätte Sorge, als Erwachsener, der diese Methode erst mal als erfolgreich erlebt hat, wieder davon ablassen zu können, wenn das Kind älter und widerspenstiger wird.
Wie siehst du das?
Schöne Grüße,
Jule