Wohl in keinem Punkt der buddhistischen Lehre existieren so viele Missverständnisse und Unklarheiten wie bei der Frage, ob und wie sich die Auffassung einer Wiedergeburt mit ihr vereinbaren lässt. Für den Außenstehenden und nur oberflächlich Informierten scheint die Sachlage klar zu sein: Buddhisten glauben an Wiedergeburt. Wer sich allerdings ein wenig tiefer mit dem Dharma beschäftigt, dem fällt recht schnell auf, dass vor allem die westliche Vorstellung von Reinkarnation (die im Abendland seit Buddhas Zeitgenossen Pythagoras präsent ist) als einer Metempsychose (Seelenwanderung) mit einer Kernaussage des Dharma in unauflösbar scheinendem Widerspruch steht: der Lehre vom Anatman, die die Existenz eines unveränderlichen Persönlichkeitskernes, einer Seele, bestreitet. Eine der Konsequenzen der Anatman-Lehre ist, dass zwischen zwei aufeinanderfolgenden Existenzen / Inkarnationen keinerlei Identität in der Substanz besteht. Somit stellt sich die Frage, welcher Art die Verbindung zwischen diesen Inkarnationen ist.
Hier ist zunächst eine Warnung angebracht. Gemäß der Überlieferung des Palikanon, der wohl ältesten schriftlichen Niederlegung von Lehrreden Buddhas, hat Buddha der Reinkarnationslehre nie explizit widersprochen. Sie scheint zu seiner Zeit und in seinem Kulturkreis eine allgemein akzeptierte, selbstverständliche ‚Wahrheit‘ gewesen zu sein. Jemand, der ihr widersprochen hätte, wäre wohl auf ähnliches Befremden gestoßen wie jemand, der heutzutage die Existenz von Atomen leugnen würde. Buddha hat allerdings davon abgeraten, sich mit Fragen der Reinkarnation zu beschäftigen – es ist ein ‚unweises Nachdenken‘, das dem Heilsziel seiner Lehre letzlich nicht dient. Grundsätzlich gehört die Frage nach der Reinkarnation zu den Fragen, die man auf sich beruhen lassen sollte. So heisst es im Sabbasava-Sutta (Majjhima Nikaya I.2, Übersetzung Kurt Schmidt):
_"Es kommt darauf an, ob man weise nachdenkt oder unweise. Wer unweise nachdenkt, bei dem entstehen immer neue Anwandlungen und die alten werden stärker; bei dem, der weise nachdenkt, entstehen keine Anwandlungen und die alten schwinden.
[…]
Unweise denkt man:
> War ich in früherer Zeit oder war ich früher nicht?
> Was war ich früher?
> Wie war ich früher?
> Was wurde ich früher, nachdem ich vorher was gewesen war?
> Werde ich künftig sein oder werde ich künftig nicht sein?
> Was werde ich künftig sein?
> Wie werde ich künftig sein?
> Was werde ich künftig werden, nachdem ich was geworden sein werde?
Oder es steigen ihm Zweifel über die Gegenwart auf, und er denkt:
> Bin ich denn oder bin ich nicht?
> Was bin ich?
> Wie bin ich?
> Woher bin ich zu diesem Dasein gekommen?
> Wohin werde ich (nach dem Tode) gehen?
Wer so unweise nachdenkt, verfällt auf eine dieser sechs Theorien:
- Als wahr und feststehend erscheint ihm die Theorie
- oder ,
- oder die Theorie ,
- oder die Theorie ,
- oder die Theorie ,
- oder es bildet sich bei ihm folgende Theorie: .
Dies nennt man
Theorien-Gestrüpp,
Theorien-Gaukelei,
Theorien-Sport,
Theorien-Fessel.
Mit dieser Theorienfessel gefesselt kann ein unkundiger Weltling nicht frei werden von Geborenwerden, Altern und Sterben, von Sorgen, Jammer, Schmerzen, von Kummer und Verzweiflung. Nicht wird er frei vom Übel, sage ich."_
Nun sollte man dies nicht als ‚Denkverbot‘ auffassen. Der Kern dieser Aussage ist vor allem die Warnung vor dem Anhaften an Ansichten, hier als ‚Theorienfessel‘ bezeichnet. Stattdessen verweist Buddha auf die von ihm gelehrte Praxis, auf den edlen achtfachen Pfad, der – ohne spekulatives Denken zu bemühen - zur Einsicht in die vier edlen Wahrheiten und damit zur Befreiung führt. Dabei ist das Anhaften an einseitigen Ansichten, wie sie unter den Nummern 1. bis 6. aufgeführt werden, hinderlich und zu vermeiden. Auch in dieser Hinsicht ist der Dharma ein ‚mittlerer Weg‘. Es ist dieser Ansatz, der in den Prajnaparamita-Sutren behandelt wird und der vor allem von Nagarjuna aufgegriffen wurde und zur Philosophie des mittleren Weges, dem Madhyamaka führte.
Natürlich stellt sich da nun zwangsläufig die Frage: Befreiung wovon? Hieße die Antwort darauf schlicht: vom Leiden in dieser jetzigen Existenz - so wären da auch andere Lösungen vorstellbar, von extremem Hedonismus bis hin zum Selbstmord aus kühler Berechnung. Da die Antwort auf die Frage, wie weitreichend die Befreiung sein muss, um vollständig zu sein, für viele Menschen offensichtlich nicht evident ist, berührt sie einen eminent wichtigen Punkt der Praxis – nämlich den der Motivation. Nach dem Verständnis von Buddhas Zeitgenossen konnte moksha, Befreiung, nur Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten heißen. Nun spricht Buddha jedoch eher unspezifisch von ‚samsara‘, ‚fortwährendem Wandern‘. Das, was diesem Wandern Zusammenhang gibt, was es zu einem Wandern über unzählige Existenzen hinweg macht, ist nicht eine Seele, ein fester personaler ‚Kern‘, der die Existenzform wandelt, sondern eine unpersönliche Wirkungskraft – karma.
Dazu ist zunächst zu sagen, dass sich die Auffassung von ‚karma‘ im Buddhismus gegenüber der brahmanisch/hinduistischen stark gewandelt hat. ‚Karma‘ ist hier nicht als eine Art ‚Fatum‘ zu verstehen, sondern als das den samsarischen Bereich bestimmende Gesetz der Kausalität (genauer gesagt Kausalität und Konditionalität, Wirken von Ursachen und Bedingungen, hetu-pratyaya). Kausalität nicht nur im physikalischen Sinne, sondern auch im ‚moralischen‘ - moralisch deswegen in Anführungsstrichen, weil es keine abstrakt - metaphysisch begründete Moral ist, um die es hier geht, sondern der Prüfstein der Moralität ist das ‚Heil‘, das Erwachen zur Wirklichkeit und damit die Überwindung des Leidens. Da gibt es heilvolle Gegebenheiten und unheilvolle (kusaladharma und akusaladharma), die das Erwachen jeweils begünstigen oder behindern; diese Umstände werden durch Handeln, das entsprechend als ‚heilvoll‘ oder ‚unheilvoll‘ zu bezeichnen wäre, erzeugt. Heilvoll und unheilvoll, kusala und akusala, entspricht zwar in der Regel der landläufigen Auffassung von ‚moralisch gut‘ und ‚moralisch schlecht‘, hat jedoch eine andere Grundlage – eben das karmische Gesetz.
Entsprechend wurde auch die Wiedergeburtslehre nicht einfach weitergeführt, sondern in entscheidenden Punkten neu gefasst. Das buddhistische Konzept der Reinkarnation steht in engstem Zusammenhang mit dem Konzept des samsara überhaupt – im Zen ist ‚Geburt-und-Tod‘ ein geläufiges Synonym für samsara. Das beschreibende Modell von samsara ist pratityasamutpada (etwa: Entstehen in gegenseitig bedingter Abhängigkeit, auch als Konditionalnexus bezeichnet). Pratityasamutpada ist nicht nur eine (psychologisch / idealistische) Welterklärung; es erklärt auch den Zusammenhang zwischen verschiedenen Inkarnationen. Das entscheidende Glied dabei sind die ‚samskara‘ – ‚Gestaltungen‘; wohl treffender übersetzt mit ‚Tatabsichten‘. Ich verstehe die samskara als vorbewusste Willensimpulse (im Gegensatz etwa zu Nyanatiloka), die aus Unwissenheit (avidya) heraus zum Ergreifen / Anhaften (upadana) und und damit zur Individuation drängen. Die samskara sind nun karmisch bedingt, was nicht viel mehr heisst, als dass bewusstes Handeln auf die un- und vorbewussten Antriebe (weiteren) Handelns prägend und orientierend rückwirkt. Die samskara sorgen nicht nur für die scheinbare Kontinuität eines inkarnierten, handelnden und erfahrenden empirischen Ichs (pudgala), sondern sie überstehen auch den Zerfall dieses scheinbaren Ichs, die Auflösung der upadana-skandhas (der psychophysischen ‚Aggregate des Ergreifens‘), indem sie karmisch weiterwirken. Da stellt sich natürlich die Frage, wie die samskara den Zerfall der skandhas überstehen und einen neuen nama-rupa (eine ‚Geist-Körper-Einheit‘) bedingen können; was also Übermittler, Träger und Substrat der samskara ist, wenn es keine überdauernde ‚Seele‘ gibt. Die klassische buddhistische Scholastik (der Abhidharma) versagte bei dem Versuch, dies schlüssig und nachvollziehbar zu erklären – jedenfalls wurde und wird dies von vielen Menschen so empfunden.
Als eine Antwort auf diese Fragestellung nach einem Substrat oder Empfänger / Überträger der samskara entwickelten die Yogacara (auch Vijnaptimatras oder Vijnanavadin genannt) das Konzept des alaya-vijnana, des Speicherbewusstseins. Die Schule der Yogacara (begründet durch Vasubandhu und Asanga) ist (nach dem durch Nagarjuna begründeten Madhyamaka) die zweite bedeutende Strömung mahayanischer Philosophie. Das alaya-vijnana, das entfernt an Jungs ‚kollektives Unterbewusstsein‘ erinnert, ist - grob zusammengefasst - Empfänger der samskara in der Form von vasana (‚Gewohnheits-Energieen‘), die dann als bija (Same) einer neuen Individuation wirken - in Form des klistamanovijnana oder manas, das wiederum die sechs ‚klassischen‘ (d.h. auch schon im Abhidharma behandelten) durch Wahrnehmung bedingten vijnanas enthält.
Zur näheren Erläuterung des alaya-vijnana (svw. ‚Reine Essenz des Geistes‘ oder ‚tathagatha-garbha‘ - und auch ‚nirvana‘) hier ein längeres Zitat aus Asvagoshas Mahayana Shraddhotpada Shastra (Kommentar zur Vertrauenserweckung in das Große Fahrzeug ; Übersetzung Goddard/von Muralt). Ich habe mir erlaubt, einige eigene Kommentare hinzuzufügen. Asvagosha gilt übrigens wohl nicht zuletzt wegen dieses Textes (der vor allem im koreanischen Son hoch geschätzt wird) als 12. (indischer) Patriarch des Zen, Nagarjuna als 14.
„Der Geist hat zwei Ausgänge, von welchen seine Tätigkeiten ausgehen.“
Geist / citta verstehe ich hier als Synonym von ‚naman‘, als die Gesamtheit der psychischen Anteile der empirischen Person (pudgala / nama-rupa); also der skandhas mit Ausnahme des körperlich-materiellen rupa-skandhas.
„Der eine führt zur Verwirklichung der Reinen Essenz des Geistes, der andere führt zu den Unterscheidungen des Erscheinens und Verschwindens von Leben und Tod.“
‚Verwirklichung‘ ist hier eine etwas enge Übersetzung von englisch ‚realization‘, das ja auch die Nebenbedeutung ‚Erkenntnis‘ besitzt; gemeint ist natürlich das Erwachen, bodhi. Die ‚Reine Essenz des Geistes‘ ist somit eine Interpretation von nirvana. Wie im Folgenden deutlich wird, bedeutet diese ‚Verwirklichung der Reinen Essenz des Geistes‘ das Ende von jeglicher Art von Individuation, mithin das Aufhören des Kreislaufs der Wiedergeburten. Die ‚Ausgänge des Geistes‘ sind somit samsara und nirvana; der Geist steht zwischen ihnen, besitzt das Potential zu beidem.
„Durch jede dieser Türen gehen des Geistes Begriffe so sehr untereinander verkettet hindurch, dass sie nie getrennt waren und es auch nie sein werden.“
‚Begriffe‘ ist hier missverständlich; ich verstehe ‚Begriff‘ hier im Sinne von ‚samskara‘, von (karmisch wirksamen) ‚Tatabsichten‘. ‚Begriff‘ im herkömmlichen Verständnis wird im Weiteren ‚falscher Begriff‘ genannt. Beide Konzepte - das der vorbewussten Tatabsichten und das des ‚Begreifens‘ / begrifflichen Ergreifens (upadana) gehen hier nahtlos (über die sie verbindenden Glieder von pratityasamutpada) ineinander über. Die samskara haben über den Geist als klesa eine ‚trübende‘ Rück- / Wechselwirkung auf die ‚Reine Essenz des Geistes‘.
„Was bedeutet: Reine Essenz des Geistes? Sie ist die höchste Reinheit und Einheit, die allumfassende Ganzheit, die Quintessenz der Wahrheit. Die Essenz des Geistes gehört weder zu Tod noch Wiedergeburt, sie ist ungeboren und ewig.“
Vergleiche Itivuttaka 43: „Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes …“ oder auch Udana 8,1. Es handelt sich hier also nicht um eine ‚mahayanische Ketzerei‘ - auch im Palikanon wird nirvana nicht einfach als ein Negativum, als Nichts verstanden.
„Die Begriffe des bewussten Geistes werden durch falsche Vorstellungen individualisiert und unterschieden.“
Individualisierung und Unterscheidung - hier setzt sich pratityasamutpada mit ‚Werden‘ (bhava) fort, bzw. mit Wieder-Werden, punarbhava. Punarbhava ist der Sanskritbegriff, der in westlichen Sprachen mit ‚Reinkarnation‘ o.ä. wiedergegeben wird.
„Wenn der Geist von dem unterscheidenden Denken freigehalten werden könnte, so gäbe es keine willkürlichen Gedanken mehr zur Erzeugung der Erscheinungen der Form, existierender Dinge und Bedingungen. Deshalb waren von Anfang an alle Begriffe unabhängig von Individuation, von Namen, geistigen Stimmungen und Bedingungen.“
Statt ‚waren von Anfang an‘ macht mE die Übersetzung ‚sind ursprünglich‘ mehr Sinn. Hier bahnt sich eine Umdeutung von ‚Begriffe‘ bzw. ihrer ‚Wurzel‘, den samskara, an.
„In ihrer essentiellen Natur sind sie von der gleichen Einerleiheit, weder veränderlich noch zerbrechlich noch zerstörbar. Da sie von einer So-heit, von einer Reinheit sind, werden sie als Geistessenz bezeichnet.“
Man beachte die Gleichsetzung von ‚Geistessenz‘ mit ‚Essenz der Begriffe‘ oder besser ‚Essenz des Begreifens‘! Ich verstehe diese schwierige Passage so: die Essenz des Geistes ist seine Funktion, ist ‚Wirken‘ an sich. ‚Samskara‘ erfährt hier eine Umdeutung, da es als nicht notwendig zielgerichtet, auf ein Ergreifen (upadana) gerichtet, sondern als im Kern freie, reine Dynamik aufgefasst wird. Darüber hinaus wird hier auch klar, dass der Geist kein unabhängiges Eigensein (svabhava) besitzt, sondern ‚leer‘ (sunya) ist. Dies ist ein bedeutsamer Unterschied zu hinduistischen Brahma-Konzepten. Der Geist ist nicht ein Etwas, das eine Funktion erfüllt; er ist mit seiner Funktion identisch.
„Die Unterscheidungen mit Worten sind nur falsche Begriffe ohne wirkliche Grundlage. In ihrer Falschheit besitzen sie nur eine relative Existenz; als falsche Vorstellungen und Gedanken tauchen sie auf und verschwinden wieder. Sogar auf die Geistessenz angewandt haben Worte keine Bedeutung, denn bei der Geistessenz gibt es nichts, was ergriffen oder mit einem Namen versehen werden könnte. Aber wir gebrauchen Worte, um uns von den Worten freizumachen, bis wir die reine, wortlose Essenz erlangen. … Alle Begriffe sind ein unteilbarer Teil der Realität, sie sind nicht künstlich, sind aber unveränderlich, unaussprechlich und undenkbar. Sie sind die Geistessenz selbst. …“
Auch hier ist wieder darauf zu achten, ‚Begriffe‘ und ‚falsche Begriffe‘ (d.h. Begriffe im herkömmlichen Sinn, ‚Unterscheidungen mit Worten‘) nicht miteinander zu verwechseln. Wenn wir auf die obige Identifikation von ‚Begriffen‘ mit (samskarischem) Wirken zurückgreifen, dann ist dieses Wirken tatsächlich von der (konventionellen) Realität nicht zu trennen. Das Wirken ist ihr dynamischer Charakter, als Daseinsmerkmal wahrgenommen ihre Unbeständigkeit (anitya).
„Wenn irgendein lebendes Wesen fähig wäre, sich von allen willkürlichen Begriffen freizuhalten, so würde dies bedeuten, dass es die Einheit mit der reinen Essenz aller Begriffe erlangt hat. …“
Reine Dynamik, reines Wirken ohne künstliche Trennung von Subjekt und Objekt; direktes Wirken der Geistessenz ohne Vermittlung durch Geist und falsche Begriffe / Vorstellungen. Dies ist eine Definition des Tathagatha, des in Soheit Wandelnden.
„Dann gibt es den erscheinenden und verschwindenden Aspekt der Geistessenz, den wir als Geburt und Tod bezeichnen. In diesem Zusammenhang stellen wir uns die Geistessenz vor als den Tathagathaschoß, in Wirklichkeit aber kommt nichts hervor und nichts kehrt zurück und so gibt es keinen Schoß des Tathagatha, denn die Natur des Erscheinens und Verschwindens fällt mit der Natur des Nicht-Erscheinens und Nicht-Verschwindens zusammen.“
Der Tathagathaschoß (Tathagatha-garbha) als das ständig Erzeugende und (unter dem Aspekt des alaya-vijnana) wieder Aufnehmende ist also keine Art ‚atman‘ bzw. ‚brahman‘ oder ‚Weltseele‘, sondern selbst nur eine Vorstellung, eine ‚Unterscheidung mit Worten‘, ‚falscher Begriff‘. Das gleiche gilt natürlich erst recht auch für ‚Reinkarnation‘ …
„Die reine Geist-Essenz ist weder Einheit noch Vielheit und doch begreifen wir sie als das unerfassbare alaya-vijnana, das Speicher- oder Universalbewusstsein. … Dieses alaya-Bewusstsein umschliesst zwei bedeutsame Aspekte … Der eine Aspekt ist derjenige der Erleuchtung, der andere derjenige des Nichtwissens.“
Hier nähern wir uns dem, was gelegentlich undifferenziert und platt verkürzt als These von der Identität von nirvana und samsara bezeichnet wird.
„In ihrem Erleuchtungsaspekt ist die Geistessenz frei von jeglicher Art von Individuation und unterscheidendem Denken … Sie ist der Dharmakaya der Tathagathaheit. Sie ist angeborene Erleuchtung … Angeborene Erleuchtung jedoch und das Erscheinen der Erleuchtung sind von derselben Gleichheit und da es nun den Begriff der Erleuchtung gibt, gibt es den Begriff der Nicht-Erleuchtung.“
… da es den ‚falschen Begriff‘ der Erleuchtung gibt, gibt es den gleichfalls falschen Begriff der Nicht-Erleuchtung…
„… Wegen der Begriffe der Erleuchtung und der Nicht-Erleuchtung gibt es den Begriff des Erreichens der Erleuchtung, jedoch sind Erleuchtung, Nicht-Erleuchtung und Erreichen der Erleuchtung alle von derselben Gleichheit und Einheit. Wenn der Geist sich seiner höchsten Erleuchtungsnatur bewusst ist, so spricht man von der Erleuchtung, wenn er nicht erleuchtet ist inbezug auf seine höchste Natur, so bezeichnen wir dies mit Nichtwissen, aber in Wirklichkeit gibt es im alaya-vijnana keinen Unterschied unter ihnen, da gibt es nur die vollkommene Reinheit des Dharmakaya.
[…]
Nun erhebt sich die Frage: wie können diese scheinbaren Unterschiede sich aus der Reinheit der Geistessenz erheben? Die Antwort lautet, dass dies aus der vollkommenen Anpassung des alaya-vijnana zu seiner Anhäufung von Befleckungen, die sich seit undenklichen Zeiten gebildet haben, entstanden ist. Diese lassen zwei Klassen von Phänomenen entstehen, welche untrennbar von seiner inneren Erleuchtungsnatur sind und auch miteinander in Verbindung stehen. In einer Klasse sind Phänomene, die sich auf intellektuelle Reinheit beziehen und die sich zur Erleuchtung hinbewegen, in der anderen Klasse sind Phänomene, die das Karma betreffen und die sich nach dem Nichtwissen hin bewegen. …“
Die ‚beiden Klassen‘ sind die heilsamen Gegebenheiten (kusaladharma) und die unheilsamen (akusaladharma). Die kusaladharma entsprechen sila, prajna und dhyana, dem achtfachen Pfad.
„Obgleich alle Phänomene des Geistes, seine Wahrnehmungen, seine Unterscheidungen, sein Bewusstsein zur Natur der Nicht-Erleuchtung gehören, so ist doch die Natur der Nicht-Erleuchtung dieselbe wie die Natur der Erleuchtung, also weder zerstörbar noch unzerstörbar. Es gleicht dies den Wellen an der Oberfläche des Ozeans, die durch den vorbeisausenden Wind emporschlagen. Beide sind verbunden, aber das Wasser selbst besitzt nicht die Fähigkeit der Bewegung, so dass, wenn der Wind sich legt, die Wellen sich wieder senken. So kehrt das Wasser wieder zu seiner natürlichen Ruhe zurück. Dasselbe gilt für die lebenden Wesen. Ihre reine Geistessenz ist durch den … Wind des Nichtwissens gestört worden, aber weder Geist noch Nichtwissen besitzen irgendwelche eigene Substanz noch Form noch Phänomenales, noch sind sie voneinander getrennt.“
Soweit das Zitat. Der ‚kanonische‘ Hintergrund der Yogacara-Schule findet sich im Lankavatara-Sutra, das vor allem in der Frühzeit des Zen eine bedeutende Rolle spielte, bis es zugunsten der Prajnaparamita-Sutren (die wiederum mit dem Madhyamaka in enger Verbindung stehen) etwas in den Hintergrund trat.
Wenn man also fragt, wie Buddha Shakyamuni, der vollständig Erleuchtete, in seiner Lehre an der Vorstellung festhalten kann, daß ein Individuum wiedergeboren wird, nachdem doch feststeht, daß es keine Seele gibt, die fortdauern würde – dann beruht diese Frage auf einem Missverständnis. Die Wieder-geburt eines Individuums wurde schon im frühen Buddhismus gerade nicht behauptet. Das ‚Wieder-‘ (oder auch das ‚Re‘ in ‚Reinkarnation‘) ist irreführend – wenn auch nicht ganz so abwegig wie der Begriff Seelenwanderung / Metempsychose. Es gibt im Buddhismus keine ‚Wiederkehr des ewig Gleichen‘. Was immer wieder neu geboren wird, sich inkarniert, sind aus Unwissenheit entstandende und fortbestehende Willensimpulse – die unbeschadet ihres Fortbestehens (solange Unwissenheit als ihre Bedingung fortbesteht) ständigem karmischem Wandel unterworfen sind. Es gibt also keinerlei Identität zwischen verschiedenen Inkarnationen – lediglich sich wandelnde Willensimpulse als bedingende Beziehung. Diese Position findet sich schon im frühen Buddhismus.
Karma ist nach buddhistischem Verständnis nichts, das angesammelt werden kann, sondern etwas, das nach dem Muster Aktion - Reaktion direkt und unmittelbar wirkt. Man könnte nun zwischen ‚kollektivem‘ und ‚individuellem‘ karma unterscheiden, doch ist dies nur eine Unterscheidung auf der Ebene konventioneller Aussagen (samvrti-satya). Auf dieser Ebene arbeitet das Individuum an ‚seinem‘ Erwachen (oder auch nicht) und bedingt durch sein Handeln eine leidhafte Fortexistenz - wenn auch streng genommen nicht die eigene, sondern eine im Kollektiv aufgehobene.
Andererseits ist die Identifikation mit vorangegangenen und folgenden Inkarnationen zunächst soterologisch von Vorteil – sie gibt einem noch vorwiegend von egoistischen Antrieben geleiteten Wesen eine hinreichende Motivation zum Betreten des Pfades. Das würde ein radikales Verwerfen der aus dem Brahmanismus überkommenen Reinkarnationslehre unzweckmäßig machen – die (den am Beginn des Pfades Stehenden sicher spitzfindig erscheinenden) buddhistischen Modifikationen dieser Lehre zeigen jedoch auch den Weg zur Auflösung bewusst werdender Widersprüche.
Mit fortschreitender Auflösung von avidya muss zwangsläufig mit dem Anhaften an der falschen Auffassung von einem Ich auch die egoistische Motivation schwinden. Hier tritt dann das, was ich die ‚Bodhisattva-Motivation‘ nennen möchte, an dessen Stelle – die im Vorfeld kultivierten brahma-viharas karuna, maitri, mudita und upeksa. Man könnte auch sagen, die Identifikation wird zunehmend auf das ‚Kollektiv‘ gerichtet, nicht mehr auf mit einem illusorischen Ich verbundene Inkarnationen. Um eine platte ‚fromme Lüge‘ handelt es sich bei der Reinkarnationslehre trotzdem nicht, da auf einer höheren Aussageebene, wenn man sich also der Ebene höchster Wahrheit (paramartha-satya) annähert, zwischen Kollektiv und Individuum kein Unterschied existiert. Das heilswirksame Handeln des Bodhisattva ist dann auch kein individuelles Handeln mehr – der Bodhisattva ist daher tatsächlich fähig, „das Meer mit einem Teelöffel auszuschöpfen“.
Auch die Zeit, das Vorher – Nachher, ist Illusion; eine durch die Individuation bedingte Form der Wahrnehmung. Nur aus dieser individuellen Sicht heraus kann es vorangegangene und nachfolgende Inkarnationen überhaupt geben. Für den Erwachten existiert kein Konzept der Zeit, kein Vorher und kein Nachher, kein Kollektiv und kein Individuum, weder Geburt noch Tod. Und nur so ist es zu verstehen, dass das Erwachen eines Wesen gleichzeitig das Erwachen aller Wesen ist – mit Shakyamuni Buddha sind alle Wesen erwacht.
Freundliche Grüße,
Ralf