Um einen Genozid zu begehen, muss man erst einmal die Gelegenheit haben. Für die Vorgänge in Butcha haben den Russen ein paar Tage Besatzung ausgereicht. Die Deportation tausender ukrainischer Kinder nahm nur Wochen in Anspruch. In den mittlerweile 10 Jahren Besatzung von Teilen der Oblaste Luhansk und Donezk durch russische Urlauber hat sich die Bevölkerung des Gebiets in etwa halbiert, weil die pro-ukrainische Bevölkerung vertrieben, verfolgt, gefoltert und getötet wurde. Die meisten Quellen sprechen von 2-3 Mio. Vertriebenen (also rd. der Hälfte der Bevölkerung) und von einer fünfstelligen Zahl an zivilen Todesopfern (und nein: da geht es nicht um die, die durch ukrainischen Beschuss ums Leben kamen).
Und da Du ja weiter oben darauf hingewiesen hast, dass man es der Ukraine überlassen sollte, ob sie sich für Kampf oder Kapitulation entscheidet, hätte ich hier noch ein Interview mit einem ukrainischen Menschenrechtler und Journalisten für Dich, der als ukrainischer Soldat in Kriegsgefangenschaft geriet.
Journalist über Kriegsgefangenschaft: „Gewalt habe ich falsch verstanden“ | taz.de
Ich zitiere mal ein paar aufschlussreiche Sätze:
Wenn ihr Frieden mit Russland schließen wollt, dann ist mein Vorschlag, dass ihr eure Koffer packt und nach Russland geht. Denn was ihr eigentlich vorschlagt, ist, dass Russland zu euch kommt. Vielleicht solltet ihr diesen Prozess beschleunigen, und dann werdet ihr sehen, was ihr Frieden nennt. Ihr schlagt dem größten Land Europas vor, seine Niederlage zu akzeptieren, seine eigene Identität aufzugeben – jemandem zu erlauben, seine Freiheit zu nehmen, es auszulöschen, und für euch ist das Frieden.
Ich selbst habe einen antiautoritären, anarchistischen Hintergrund und habe an Protesten gegen den Irakkrieg teilgenommen. Doch irgendwann hat sich der Antiimperialismus vieler Linker, mit denen ich auch damals gemeinsam protestierte, wohl in Antiamerikanismus und Prorusslandismus verwandelt.
Wenn ihr antiimperialistisch seid, seid ihr gegen Imperien – im Plural. Mit eurer Haltung unterstützt ihr aber gerade ein Imperium im Entstehen dabei, Millionen von Leben zu zerstören, und ich übertreibe nicht. Das ist eine Schande. Ihr wollt euren Komfort gegen Millionen von Menschenleben eintauschen, anstatt sie zu unterstützen. Es wird aber ein Scheinkomfort sein, denn die Russische Föderation besetzt und verwüstet nicht nur ukrainisches Territorium, sondern demontiert auch absichtlich alles, was vom internationalen Sicherheitssystem übrig geblieben ist. Das humanitäre Völkerrecht wird vor unseren Augen zerrissen, es ist zu einem Witz verkommen. Alle Abkommen kosten jetzt weniger als das Stück Papier, auf dem sie geschrieben sind.
Ich war Teil von Antikriegsbewegungen – sowohl als Journalist als auch als Aktivist und privat als Christ. Wo immer ich konnte, habe ich den Frieden unterstützt. Krieg ist Beseitigung von Leben, er ist Tod, der in weiten Gebieten herrscht. Wir sollten den Tod aufhalten, wo immer es möglich ist. Und wir sollten versuchen, das Leben zu fördern. Das ist sowohl meine persönliche menschliche Haltung als auch meine soziale, politische und religiöse Überzeugung. Also, ja, ich war ein Friedensaktivist und bin es immer noch, so überraschend es vielleicht klingen mag. Der Krieg wurde nicht von uns und nicht von mir begonnen. Und dann ging es darum, ob ich es wirklich zulasse, dass er voranschreitet, oder ob ich versuche, ihn zu stoppen.
Zu oft habe ich gehört, dass ein Pazifist eine Person ist, die Gewalt als Option unter allen Umständen ablehnt. Ein einfaches Beispiel: Du wirst Zeuge eines schrecklichen Gewaltverbrechens. Du bist in der Lage, es abzuwenden, musst aber Gewalt anwenden. Wirst du es tun? Nun, ich tue es. Dabei bin ich ein absolut nichtaggressiver Mensch. Denn wenn ich nicht eingreife, bin ich verantwortlich dafür, dass ich das Verbrechen geschehen lasse.