Liebe Ayse,
puh, ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie sehr mich deine Geschichte bewegt! Deshalb nochmal danke!
Ich hatte ehrlich gesagt fast ein wenig Angst vor deiner Antwort. Angst dass ich vielleicht zu tief gebohrt hab, dir weh getan hab…
Er sperrte meine Geschwister aus oder schickte sie spielen.
Sobald er mit mir alleine war, ich konnte nicht mal fliehen…
Ich habe ihn nicht mehr angesprochen, habe mich gewehrt
(scheiße, ist das immer noch schwer, hoffe ich kann dir
wirklich antworten).
Schon an dieser Stelle musste ich mein Lesen unterbrechen und hätte mir fast gewünscht, ich hätte nicht gefragt. Zum einen natürlich, weil deutlich wird, wie unglaublich schwer das für dich ist, darüber zu berichten, zum anderen aber auch, weil ich mir gar nicht sicher war, ob ich all die schrecklichen Details tatsächlich wissen will. Deine Worte zum Schluss zeigen mir aber, dass ich nichts Falsches gemacht habe. Deshalb würde ich hier gerne fragen, was du eigentlich meinst mit: „Ich habe ihn nicht mehr angesprochen“?
Einmal hab ich ihn getreten, wohl am Kinn, er blutete aus dem
Mund.
Da dachte ich, jetzt gleich schlägt er mich, er wird mich
umbringen.
Was er allerdings dann machte, irritierte mich: Er wischt sich
das Blut von den Lippen/Mund (keine Ahnung) und sieht sich auf
die Hand/Finger und fängt an zu Grinsen…(ich weiß nicht
mehr, was danach wirklich passiert ist, hier wird es
verschwommen)
Diese Reaktion machte mir noch mehr Angst.
Kann ich gut verstehen. Diese Reaktion zeigte eigentlich noch deutlicher seine Überlegenheit. Bei der Vorstellung dieses Grinsens bei einer solchen Gegenwehr, dreht sich sogar mir beinahe der Magen um. Ich will gar nicht wissen, was ihm dabei durch den Kopf ging!
Alles was ich während jeden Übergriffs dachte: ich bin schuld.
Wenn ich das Mama und Papa sage, dann verprügeln sie mich. Ich
bin schlecht.
Das gewalttätige Elternhaus trug leider einiges dazu bei.
Dann die Kultur!
Oh je, da kommt ja noch viel mehr zusammen. Umso unglaublicher, dass du da rausgekommen bist!
Dann war er auch so stark, ich konnte mich nicht befreien. Er
war schwer, ich war irgendwie immer dem Ersticken nahe.
Ich hatte Angst zu sterben!
Ja, das kann ich nun viel besser nachvollziehen.
Das dürfte wohl bei jedem anders sein. Ich hatte breits mit 3
Jahren ein Trauma (komisch daran erinnere ich mich, als wär es
gestern gewesen). Heißt: ich war immer sehr still und sehr
leise, und vor allem so unauffällig wie möglich. Alles andere
hätte (wie jeden Tag) Prügel bedeutet.
Bemerkt denn da
wirklich keiner was?
Nein, in diesem Fall hat sich mein Verhalten nicht geändert.
Es hat auch nie einer die blauen Striemen auf dem Rücken oder
Po und Beine bemerkt, die mir meine Eltern beigebracht haben.
(Ich erinnere mich an die selbstgebastelte Peitsche meines
Vaters…)
Puh ja, bei solchen Verhältnissen, bzw. einer solchen Ausgangssituation, kann ich mir besser vorstellen, dass das nicht groß auffällt. Wobei man natürlich schon auch anderen Menschen in deiner Umgebung den Vorwurf machen könnte, dass ihnen nicht auch aufgefallen ist, was bei dir daheim los war. Wie kam es zu dem Trauma? (Wenn ich fragen darf…)
Ich habe wie sonst auch versucht, nicht aufzufallen, nichts
falsches zu sagen. Und wollte doch so gerne, dass mir
irgendwer hilft.
Nicht nur gegen den Missbraucher, der das Sahnehäubchen war,
mehr nicht!
Ein stummer Hilferuf, den niemand gehört hat! Wie vielen Kindern mag es wohl genauso gehen… *seufz*
Das kann ich nicht erklären: Im „kopf“ weiss ich, dass es egal
war, ob Nachthemd oder nicht, er hätte es dennoch getan. Aber
im „Herzen“ sage ich mir immer wieder: hättest du bloss eine
Hose angehabt.
Kann es sein, dass das für dich die einzige „Erklärung“ für deine Schuld, von der du als Kind überzeugt warst, war? Ich kann mir irgendwie vorstellen, dass du nach einem Grund gesucht hast. Und dieser vermeintliche Grund hat sich so festgebissen, dass er dir auch heute noch im Kopf rumspukt, obwohl du eigentlich weißt, dass es unsinnig ist.
Sobald ich sage, dass ich selbst Opfer einer solchen Tat war,
kommen plötzlich ganz viele Fragen. Manche haben hinterher
Tränen in den Augen und nehmen mich in den Arm (meist sind das
die Frauen), manche lassen einen dummen Spruch ab. (Ein
Originalzitat eines ehem. Kollegen: Ach was, ab 8 ist
dehnbar!)
Respekt, dass du es anscheinend schaffst, da irgendwie drüberzustehen. Ich kann mir zwar vorstellen, dass blöde Sprüche oft nur deshalb kommen, weil manch einer damit seine Unsicherheit überspielen will, aber das ist trotzdem einfach nur scheiße!
Da hast du Recht: immer wenn ich denke, dass ist nun eine
Schwäche, sagen die Menschen (wie auch Jule weiter unten),
dass es eine Stärke sei.
Ich will kein Mitleid, aber ich will, dass „Unbeteiligte“
verstehen, dass Kinder eben nicht nach 3-4 Jahren Therapie
nach so einem Erlebnis wieder völlig normal werden. Ich will,
dass sie wissen, dass das ein Leben lang, unter Umständen
80-90 Jahre auf diese Menschen wirkt und nachwirkt.
Deswegen will ich offen damit umgehen.
Und verdammt ja, es bringt mich aus dem Konzept, darüber zu
reden. Vor allem je „tiefer“ die Fragen gehen und somit die
Antworten ausfallen müssen, desto schlimmer ist es (jetzt,
während ich schreibe, musste ich bestimmt dreimal aufstehen,
mich ablenken, Wasser trinken, durchatmen; fange immer wieder
an zu hyperventilieren)
Oh Mann! Ich will dir nicht so weh tun! Aber vielleicht ist es eben auch das, dass man so deutlich merkt, dass du dich mitteilen willst, auch wenn schwer fällt. Wahrscheinlich will ich dir einfach nur die Chance dazu geben. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass ich das (in Bezug auf ganz was anderes) auch kenne, dass es schwer fällt drüber zu reden, es deshalb von sich aus kaum tut, aber unglaublich froh ist, wenn jemand kommt und fragt und ehrliches Interesse und Mitgefühl hat.
Puh, heftig. Auch wie klar und deutlich du dich nach all der
Zeit immer noch erinnerst…
Leider fehlen immer noch Stücke! z.B. (jetzt muss ich doch ins
Detail gehen) Ob ich den Penis gesehen habe, ob ich völlig
nackt war…keine Ahnung, da ist nichts
Zwischendrin habe ich im „Kino“ wohl doch die Augen zumachen
können.
Allerdings: und das verstehe ich nicht, die Gefühle von damals
sind sehr intensiv auch heute zu spüren, manchmal sind da
Bilder, zu denen ich keine Emotionen habe, dann sind da
Gefühle, die ich nicht Bildern zuordnen kann!
Wahrscheinlich ist es für die kindliche Seele die einzige Möglichkeit, manche Dinge einfach zu vergessen. Sonst wäre es vielleicht zu schrecklich. Werden denn die Details an die du dich erinnerst mehr, je mehr du dich mit deiner Vergangenheit beschäftigst, oder blieb das immer etwa gleich?
Es liegt wohl daran, dass ich den Eltern, die uns mit ihm
alleine ließen, die Schuld gebe. Ich mochte ihn, und er war
(so dachte ich damals eben) der einzige Mensch, der mich
liebte und das gehörte vielleicht dazu und war normal, cih
wusste doch nicht, was Zuneigung ist!
Ich war so ausgehungert nach Zuneigung. Vielleicht hasse ich
ihn deswegen nicht. Er hat sich ja auf seine perverse Art und
Weise für mich interessiert. Das war einfach mehr, als ich in
den Jahren zuvor an Liebe und Zuneigung erfahren durfte.
Danke, jetzt versteh ich das viel besser! Obwohl es das in meinen Augen noch schlimmer macht: Ein kleines Mädchen, dass sich nach Liebe sehnt, so auszunutzen.
Hast du dich eigentlich jemals gefragt, ob es anders gekommen wäre, wenn du von deinen Eltern mehr Liebe bekommen hättest? Mir kommt es so vor, als wärst du dann vielleicht keine ganz so „leichte Beute“ gewesen. Und womöglich hättest du dich dann auch eher anvertrauen können.
Er sprach ja selten eine Drohung aus. Und irgendwann wollte
ich das nicht mehr. Ich habe gemerkt, dass er mich nicht aus
Liebe be…(ich finde jetzt kein Wort)lagerte (?).
Ich wusste, dass man das nicht mit kleinen Kindern macht, und
er hatte immerhin ein 9 jähriges Mädchen beschmutzt!
Und erstaunlicher Weise reichte es zu sagen: „Wenn du nicht
aufhörst, werde ich es meinem Vater sagen“ Er sagte: Nein, tu
es nicht. Ich mach nichts mehr.
Es war so einfach! Vielleicht war ich ihm nicht mehr kindlich
genug!
Wow! Bemerkenswert, echt, wie du dich nach 5 Jahren getraut hast, so eine Drohung auszusprechen. Hast du ihn denn später noch angezeigt? Wurde er verurteilt? Lebt er überhaupt noch, weißt du was von ihm?
Ich führe seit 2005 ein halbwegs normales Leben.
Ich habe erst einmal herausfinden müssen, welchen roten Faden
die ganze Geschichte durch mein Leben zog, ich musste
akzeptieren, dass viele meiner Probleme u.a. von dem
Missbrauch kamen und ich musste vertrauen, dass mir jemand
helfen konnte, ohne mich zu verurteilen.
Die Jungfräulichkeit steht halt hoch im Kurs!!
Hm… Der wichtigste Schritt ist wohl das Vertrauen.
Deine Geschichte klingt danach, als hättest du keinen Kontakt mehr zu deinen Eltern. Darf ich fragen, was mit deinen Geschwistern ist?
Danke für deine Worte, sie bedeuten mir viel. Auch wenn ich
dich nicht kenne! Danke!
Gerne! Sehr gerne! Ich bin sehr froh, wenn dir das irgendwie gut tut! Auch wenn ich selber nicht weiß, warum ich den Drang hab, da nachzufragen.
Es ist doch sehr persönlich und ich weiß
nicht, ob es diesen Pädophilen nicht auch noch ein gefundenes
Fressen ist. Ich meine, lesen diese Wesen meinen „Bericht“ und
erfreuen sich daran?
Das macht mir im Moment zu schaffen.)
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das was du schreibst, Pädophile irgendwie anturnt.
Ich würde gern noch eine Frage stellen: Denkst du manchmal drüber nach, wie dein Leben heute aussähe, wenn dieser Missbrauch nicht stattgefunden hätte? Wenn ja, kommst du dabei zu irgendeinem Ergebnis?
Ich wünsche dir, dass du wieder besser schlafen kannst, auch wenn ich mir sehr gut vorstellen kann, wie sehr dir das den Schlaf raubt.
Ganz liebe Grüße und fühl dich herzlich umarmt
M.