Hi Thomas
Du sagst, dass wir so stark von der Realität bestimmt werden,
dass wir sie (wenn unsere Kinder betroffen sind) nicht ändern
können. Die Frage ist also, ob wir uns von der Realität
bestimmen lassen dürfen, und wie weit das gehen darf.
Das ist vermutlich der entscheidende Unterschied in unser beider Denkweisen. Für mich als Physiker ist die Realität fest vorgegeben. Ein Stein fällt nach unten. Wir können zwar bestimmen, dass er nach oben fallen soll, aber der Stein wird sich nicht daran halten … Wenn wir die Realität nicht so nehmen, wie sie ist, dann leben wir an ihr vorbei und bauen uns ein Luftschloss, woraus schlimmstenfalls psychische Krankheiten resultieren können …
Mein Standpunkt ist der - und obwohl du Physiker bist, hast du
in einer Mail ein juristisches Beispiel gebracht -, dass wir
so weit normativ eingreifen sollten, wie dies möglich ist.
Da stimme ich mit dir überein. Meine Frau und ich versuchen z.B. über den Elternrat die Realitäten in die richtige Richtung zu biegen. Aber es ist umso schwerer eine Realität zu verändern, je mehr Leute von ihr betroffen sind. Und von der Realität Schule sind viele, sehr viele Leute betroffen.
Wenn du als Richter beispielsweise den „realen“ Fall eines
Vergewaltigers vor dir hast, dann wirst du doch wohl kaum zu
der Aussage kommen, dass es - weil es so viele Vergewaltiger
überhaupt gibt - unsinnig ist, etwas dagegen zu tun.
Was wird denn konkret gegen Vergewaltiger unternommen? Sie werden nach ihrer Tat dem Vollzug zugeführt, um ein paar Jahre später wieder entlassen zu werden und als Wiederholungstäter erneut aufzutreten. Offensichtlich sind also die ergriffenen Gegenmaßnahmen nicht ausreichend und viel zu halbherzig. Eine wirksame Maßnahme wäre die Kastration, aber da traut sich wieder keiner ran … Die Justiz lebt offensichtlich auch in einer Traumwelt, wenn sie denkt, Vergewaltiger durch Psychotherapie heilen zu können. Die Zahl der Rückfalltäter belegt dies deutlich. Es ist eben gefährlich, wenn man sich seine eigenen Realitäten baut!
Ein Gesetzgeber will die Bestrafung eines Unrechts abschaffen,
weil es so viel davon gibt, dass es unnütz oder
„unrealistisch“ ist, die Ausübung dieses Unrechts zu
bestrafen. Es gibt diese Fälle halt, aber aus realistischer
Sicht kann man nichts dagegen machen. Das ist doch eine höchst
merkwürdige Konstruktion, findest du nicht?
Genau so etwas passiert doch! Nimm z.B. die Rechtschreibreform. Eingeführt, weil viele Leute nicht mehr richtig schreiben konnten. Damit ihre Fehler zukünftig nicht mehr bestraft werden, hat man einfach die Rechtschreibregeln geändert, so dass das Falsche nun das Richtige ist. Man hat sich der Realität gebeugt, dass die Leute nicht richtig schreiben konnten und diese Realität durch ein neues Regelwerk für richtig erklärt!
Nein, gerade weil es so oft geschieht, muss man
etwas degegen tun. Und wenn man bei den anderen nicht ansetzen
kann, muss man bei sich selbst (oder seinen Schützlingen)
etwas tun.
Damit holst du deine Schützlinge und dich aus der Norm heraus, so dass ihr unnormal werdet. Für Kinder ist es schwer zu verstehen, warum sie anders sein müssen als die anderen Kinder.
Ich jedenfalls hätte ein schlechtes Gewissen, wenn
ich nicht wenigstens versucht hätte, meinem Kind zu zeigen,
was sinnvoll ist und was nicht.
Wie ich schon oben sagte, denken Kinder anders als wir. Es bringt nichts, einem 3-jährigen Kind analytische Geometrie beizubringen, weil es die geistige Reife dafür noch gar nicht hat. Natürlich muss man seinen Kindern zeigen, was sinnvoll ist und was nicht. Aber man muss es dann tun, wenn sie es lernen können und wollen.
Ich sehe aus diesen Gründen eigentlich keine wirkliche
Differenz zwischen uns. Du wirst (möglicherweise) alles, was
ich gesagt habe, unterschreiben können - theoretisch. Und was
die praktische Seite angeht, muss man sich eben damit
zufrieden geben, dass es keine Lösung gibt, die für
alle die richtige ist.
Ich nehme die Realität als gegeben hin, weil wir darin leben. Ich muss meine Kinder dafür fit machen, in diesen Realitäten bestehen zu können. Daher rede ich sie nicht schön, sondern nenne die Dinge beim Namen.
Ich verstehe auch nicht mehr, warum du nun eigentlich gegen Schuluniformen bist. Wäre das nicht eine großartige Möglichkeit, die Realität Schule zu ändern. So dass die Kids nicht mehr so viel Wert auf ihre Kleidung legen und sich wieder wichtigeren Dingen zuwenden können? Du merkst selbst, dass es immer Leute gibt, die einer Änderung der Realität entgegenwirken
P. S. Ich fahre am Dienstag in Urlaub (bis zum 06.06.).
Du Glücklicher Ich habe leider die Realität, dass ich schulpflichtige Kinder habe, so dass ich nur zur Hauptsaison fahren kann …
Wenn wir weiter diskutieren wollen, müssen wir also entweder
vorher abschließen (was unwahrscheinlich und von mir auch nicht
gewollt ist) oder wir müssen die Unterbrechung in Kauf nehmen.
Auf jeden Fall möchte ich mit dir weiter diskutieren. Wir werden uns in Zukunft bestimmt öfters ausgiebiger unterhalten
Viele Grüße
Stefan.