Weil es nicht seine kommunizierte Entscheidung ist. Wir mutmaßen aus Zeichen heraus, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen, d.h. wir mutmaßen über sie, das ist kein Subjekt-Subjekt-Verhältnis.
Aber nicht gerade gefahrenfrei und aussichtsreich, was Strömungen anbelangt, oder?
Ich weiß es nicht. In der Tat war das ja eine meiner fünf UP-Fragen, ob sie von sich aus Kontaktaufnahmen versuchen oder warum nicht?
Das ist bei schriftlosen Kulturen auch extrem unterschiedlich. In manchen Fällen sind die Überlieferungen außerordentlich genau, da es quasi eine Berufsgruppe der Erzähler gibt, die von klein auf darauf trainiert werden, die jeweiligen Geschichten wortwörtlich wiederzugeben. In anderen Fällen werden schon nur zwei, drei Generationen zurückliegende Ereignisse in das bestehende Mythensystem eingebaut. Bei als positiv empfundenen Kontakten kann es sogar noch schneller gehen, wie beispielsweise der Cargo-Kult in Melanesien zeigt. Ich möchte nicht ausschließen, dass die Sentinelesen eine Art negativen Cargo-Kult entwickelt haben, aufgrund dessen sie nun so übermäßig aggressiv auf fast jeden Kontaktversuch reagieren.
Kokosnüsse kennen sie von ihrer eigenen Insel und dass die angesichts der Metallstücke als erstes daran dachten, daraus Waffen herzustellen, darf man mal bezweifeln. Wahrscheinlich wird sich ein ganz mutiger zunächst einmal getraut haben, die Dinger überhaupt zu berühren.
Im übrigen: nur weil die da allein auf einer Insel sitzen, sind die ja nicht blöd. Zwischen unbelebten Dingen, die rumliegen oder gar bereichern und den Folgen eines Kontaktes mit anderen Menschen, kann man auch unterscheiden, wenn man beides relativ selten erlebt.
Was die Überlieferung angeht: die sitzen jeden Abend in ihrer Kleingruppe zusammen und nicht vor dem Fernseher. Und die erzählen sich nicht heute erstmals die Geschichte von 1879, sondern seit 140 Jahren. Im Zweifel wird das Erlebte schon damals in die Grundeinstellung, keine Besucher zu dulden, eingeflossen sein.
In dem Bericht über den einen friedlichen Kontakt wird gesagt, dass auf North Sentinel keine Kokosnüsse wachsen.
Bei einem anderen Kontaktversuch wurden wohl als Geschenke am Strand neben diversem anderem auch eine Puppe und ein lebendes Schwein deponiert. Auf beide wurde mit Pfeilen geschossen und das Schwein dabei getötet; sowohl das Schwein als auch die Puppe wurden dann begraben.
Ich möchte nicht die mündliche Überlieferung in Frage stellen, aber zu bedenken geben, dass die Interpretation der Ereignisse von 1879 nicht unbedingt den Ereignissen gerecht wurde.
Die Informationen, die sie erhielten waren, wenn ich es recht verstehe: zwei ältere Leute sind fort und nicht wiedergekommen, die Kinder sind wiedergekommen, aber was die erzählt haben, bleibt im Bereich der Spekulation (auch davon abhängig wie alt sie waren).
Aber wir verzetteln uns hier meiner Meinung nach in der Diskussion, die FBH angestoßen hatte. Mich interessiert nachwievor die Frage, warum wir eine fremdenfeindliche Haltung, die mit extremer Gewalt ausgeübt wird, bei diesen Menschen achten und sogar gut finden, während wir es bei anderen eben nicht gut finden, in den meisten Fällen auch nicht akzeptieren.
Wir wissen doch gar nicht, ob die Gewalt fremdenfeindlich motiviert ist. Dass die Gruppe, die von einer Frau begleitet wurde, nicht angegriffen wurde und deren Geschenke trotz der mangelnden Verständigkeitsmöglichkeiten mit freundlich wirkenden Interaktionen akzeptiert wurden, spricht m.E. gegen eine generelle Fremdenfeindlichkeit.
Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie die Ankunft von einzelnen Männern oder Männergruppen als Angriif bzw. kriegerischen Akt verstehen und die Tötung des- oder derjenigen als Selbstverteidigung.
Vielleicht habe ich ja Hornhaut auf meiner Empathie, aber sonderlich extrem finde ich die Gewalt nicht. Die bisherigen Todesopfer wurden „nur“ erschossen und waren vermutlich gleich tot. Sie wurden vorher nicht gefoltert, sie wurden nicht besonders qualvoll zu Tode gebracht, und ihre Leichen wurden auch nicht geschändet, sondern bloß vergraben.
Wer sollte das mit einer solchen Gewißheit sagen können, wenn sich bislang dort niemand umsehen konnte? Die Inseln liegen im optimalen Klimabereich für Kokospalmen und wenn es dort nicht schon immer welche gegeben haben sollte, so wurde doch bestimmt in den letzten paar Millionen Jahren die ein oder andere Kokosnuß angeschwemmt, von denen die ein oder andere dort auch gekeimt haben wird.
Und selbst, wenn sie dort nur gelegentlich am Strand herumliegen, so sind sie den Ureinwohnern zumindest als Treibgut bekannt.
Fremdenfeindlichkeit ist angeboren und ein Schutzmechanismus, der inzwischen kulturell bedingt weitgehend aufgelöst wurde. Bei den Sentinelesen ist das naturgemäß nicht der Fall. Dort ist jeder Fremde erst einmal ein Problem - erst recht vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die die Leute bisher mit Fremden gemacht haben.
Selbst in unserer Schriftkultur, in der wir durch die Schrift und durch Speichermedien so gut aufbewahren können, vergessen wir kollektives Wissen oder bewerten es immer wieder neu. Welcher Deutsche bei Verstand kriegt denn beim Wort „Versailler Vertrag“ noch einen Tobsuchtsanfall und bleibt überzeugt, dass die Franzosen unsere Erbfeinde wären, denen man niemals trauen darf. Nur ein Beispiel. Den Vertrag kann man immer noch nachlesen.
Vielleicht kein guter Vergleich, aber selbst in Schriftkulturen ändern sich kollektive Grundeinstellungen recht schnell über die Generationen. Gott sei Dank
Über die Sentinelesen wissen wir in der Tat ganz wenig.
Unser Diskurs darüber ist uns aber zugänglich, und da ist aus meiner Sicht viel Grenz-Verteidigung zu lesen; sinngemäß: die wehren sich, „Notwehr“, gut, die haben halt erfahren, dass Fremde schlecht sind, der Eindringling war selbst schuld, wird also zum Täter statt zum Opfer gemacht usw.
Das ist ja unverkennbar.
Wer spricht da (in uns), wenn wir das so empfinden? Hat das nicht, in Verbindung mit der ständigen „urtümlich“-Betonung, einen Touch von „die wissen noch, wie man konsequent seine Grenzen schützt“?
Vor dem Hintergrund der politischen Diskurse, die wir hier in Europa derzeit führen …
Ich überzeichne das zugegeben, aber vielleicht wirds so kenntlich.
Wie gesagt, die Sentinelesen sind für uns in erster Linie eine freie Projektionsfläche. Wie wir die sehen, sagt vor allem was aus, wie wir uns sehen.
Und? Reicht das nicht, „tot“?
Wem sonst (erst recht, welchem Staat?; du hast oben vorgeschlagen, die Sentinelesen als Staat zu verstehen) würden wir durchgehen lassen, dass er Eindringlinge ja „nur erschossen“ habe, aber sonst keine extreme Gewalt angewendet habe?
Gruß
F.
P.S.: Das ist kein bisschen polemisch gemeint gewesen, und ich schließe mich in das „uns“ auf jeden Fall selbst ein.
Extrem ist für mich, weil jemand bewusst zu Tode gebracht wird. Dass ich mir Extremeres vorstellen kann, ist für meine Aussage nebensächlich. „Capital punishment“ = größtmögliche Strafe. Das ist für mich extrem.
Ob die Fremdenfeindlichkeit eigentlich eine Fremdenängstlichkeit ist oder nicht, das sind in diesem Falle Spekulationen.
Um mal ganz ketzerisch zu argumentieren: in Freital ist sicher auch eine Portion Angst unter den fremdenfeindlichen Menschen dort zu finden. Bei beiden Gruppen ist die Angst, so wie sie ist, irrational. Dass die Setinelesen mehr Grund haben, Fremde zu fürchten, wissen WIR, aber bei ihnen ist es nicht mehr als eine Vermutung, die zu einem Teil auf einem Ereignis von vor über 100 Jahren basiert (von dem wir im Übrigen auch nur annehmen, dass es am Lagerfeuer vom Historiker der Gruppe weitergegeben wird, wissen tun wir es eben auch nicht).
Welche Art von Selbstverteidigung ist für uns akzeptabel?
Immer wieder wird hier gesagt, sie müssten nach unseren Gesetzen verurteilt werden, für diese Tötung.
Ich bin anderer Meinung, sie leben dort seit vielen Generationen, als es Staaten, wir wir sie heute kennen noch nicht gab.
Es ist ihr Land, folglich haben sie ihre eigenen Gesetze. Jemand der unerlaubt die Grenze übertritt wird halt getötet. Es gibt auch heute moderne Staaten, da wird nicht lange gefackelt, wer über die Grenze eindringt wird erschossen.
Auch gilt heute noch, das Ehebruch mit Steinigung bestraft wird.
Es ist ihr Land, und sie haben ihre eigenen Gesetze
Hallo,
noch ein Vergleich - als die „modernere“ Version auf den Neandertaler traf, war diese „Version“ zum Untergang veruteilt, nur dass hier nicht vorher über Menschenrechte und Wertevorstellung diskutiert wurde, es ergab sich einfach so, meist durch Gewalt aber auch durch die Evolution (meine Laien-Meinung) und noch einer - als Amerika entdeckt wurde, da wurde seitens der Entdecker auch nicht lange gefackelt - anektiert, missioniert, massakriert, und das unter Berücksichtigung der damals geltenden Werte - Wir sind die besseren Menschen, wir bestimmen wo es lang geht - die Eingeborenen haben sich daran zu gewöhnen.
Heute, am Beispiel dieses Sentilenen, gehe wir differenzierter vor - heute wird erstmal vorher diskutiert. Solange es zu keiner „Störung“ kommt, solange ist uns das egal bzw. wir finden es gut, dass es heute so etwas noch gibt, nicht nur auf dieser Insel, in Südamerika soll es ja auch noch vereinzelt Stämme geben, die genau so leben wir vor hunderten von Jahren. Geschieht jedoch etwas, wie diese missglückte Missionarbesuch mit Todesfolge, dann wird sofort alles in Frage gestellt und es werden Konsequenzen gefordert - so sind wir eben.
Gruss
Czauderna
(abgesehen davon, dass ich diesen Wunsch eher für „oberflächlich“ halte, denn ob wirklich viele tatsächlich darauf verzichten wollen würden …)
Da hast du sicher recht, Es gibt sicher nicht umsonst in vielen Witzforen diese Fotos von einsamen Hütten im Wald, mit dem Untertitel „würdest du hier Urlaub machen wollen, wenn es keinh Wlan gibt?“
Hier geht’s nicht um die wörtliche Überlieferung einer Sage, sondern um einen ganz einfachen Sachverhalt:
„Einst kamen Fremde über das Meer. Sie fingen einige der unsrigen, fesselten sie und nahmen sie mit ihrem Gefährt mit über das Meer. Wenige von ihnen kehrten zurück und diese berichteten von großem Schrecken, Schmerz und Trauer. Viele andere der unsrigen veränderten sich, nachdem sie Kontakt zu den Fremden hatten. Ihre Haut begann zu glühen, ihre Stimmen veränderten sich, es lief ihnen gelber Schleim aus der Nase und sie husteten diesen aus. Nach wenigen Tagen sanken sie in eine tiefe Bewußtlosigkeit, aus der sie nicht mehr erwachten. Auch von den wenigen, die zurückkehrten, wird berichtet, daß auch sie sich verändert hatten und viele andere unseres Volkes nach deren Rückkehr ebenfalls. Nach wenigen Wochen waren drei ganze Familien tot und viele andere aus den anderen Familien.“
So oder so ähnlich können die Geschichten gelautet haben und so etwas kann man über Jahrhunderte ohne Sinnentstellung weitertragen. Note bene: es ist ja nun auch nicht so, daß die Geheimnisse von Druiden, Medizinmännern & Co. früher in einem Blog hätten gespeichert werden können und trotzdem wurden Rezepte, Beschwörungen usw. über Generationen weitergegeben.
Wie sähe die Geschichte aus, wenn das ein Schiffbrüchiger gewesen wäre und kein Missionar?
Mir kommt da außerdem ein Vergleich in den Sinn: wenn ich ein Land bereise, in dem es die Todesstrafe gibt und ich begehe ein Verbrechen, das mit dieser belegt ist…
Ist das dann nicht ähnlich gelagert? Nur das „Argument“ der Entwicklungsstufe des Volkes fiele dann weg.
Habe übrigens keine eindeutige Meinung zu der Geschichte.