Hallo Nemo,
ich spreche bewusst mal nur von Kindern und Jugendlichen, weil ich mit diesen die meiste Erfahrung habe. Mobbing ist eine strukturelle Erscheinung und in nahezu allen Gruppen zu finden. Ob es zum Problem wird, hängt in aller Regel von einer rechtzeitigen Intervention - meist von außen - ab. Es gilt also, die Eskalation zu vermeiden.
Betroffen sind bei Kindern häufig die, die ängstlich sind, wenig Selbstbewusstsein haben oder besonders angepasst sind. Ich habe oft beobachtet, dass gemobbte Schüler aus Familien kamen, wo Gewalt verachtet wurde und die Eltern großen Wert auf gewaltfreies Verhalten ihres Kindes legten. Körperliche Unzulänglichkeiten, wie Unsportlichkeit, Aussehen oder Ungeschicktheit bieten ebenso Anlässe zum Mobbing, wie Eifersucht und Konkurrenz - Letztere vor allem bei den älteren Schülern.
Lehrer sind unbedingt mitverantwortlich für Mobbingprozesse. Häufig geben sie selbst den Auslöser, indem sie Schüler vor der Klasse bloßstellen oder sich in Abwesenheit von Schülern abwertend über diese äußern („Ist der Robert mal wieder krank“). Ähnliches kann man sogar schon in Kindergärten beobachten, wenn Erzieherinnen immer wieder das selbe Kind öffentlich maßregeln. Es wird nicht lange dauern, und die anderen Kinder, werden dieses Kind als Sündenbock benutzen, um von eigenen Verfehlungen abzulenken. In der Folge wird zunehmend die Ausgrenzung dieses Kindes erfolgen.
Lehrer tragen ebenfalls zum Erfolg des Mobbings bei, wenn sie dieses ignorieren oder - noch schlimmer - nicht ernst nehmen. Äußerungen wie etwa, das Opfer sei „selbst schuld“, es solle „sich nicht so anstellen“ oder „da mussten wir früher auch durch“ bestärken die Mobber in ihrem Tun, weil sie damit ja quasi von höchster Instanz die Berechtigung für ihr Verhalten attestiert bekommen. Die Opfer hingegen suchen die Schuld (was sie ohnehin tun) noch stärker bei sich und verlieren damit mehr und mehr Selbstbewusstsein. Das treibt Mobbbende und Gemobbte in einen Teufelskreis, der mehr und mehr eskaliert.
Die Opfer geraten zunehmend in die Isolation und die fehlende Intervention von außen verhindert, dass die Täter eine Rückmeldung über die Auswirkung ihres Verhaltens bekommen. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass gerade die „Dulder“ von mobbendem Verhalten überhaupt keine Vorstellung davon hatten, was beim Opfer tatsächlich passiert. Sie sahen wohl das Weinen, die hilflose Wut, das Weglaufen - aber von dem, was das beim Opfer außerdem ausgelöst hat, hatten sie nicht die Spur einer Vorstellung.
Selbst bei den aktiven Tätern endet das Wissen um die Folgen ihres Tuns häufig bei den beobachtbaren Reaktionen des Opfers. Diese reichen aus, um sich in ihrer Macht bestätigt zu fühlen, um Konkurrenz auszuschalten oder (vermeintliche) Gefahr von sich selbst abzuwehren. Ich habe nicht selten in ehrlich erschrockene Gesichter geblickt, wenn ich bei Interventionsgesprächen davon erzählt habe, dass XY sich nicht mehr in die Schule traut oder nicht mehr schlafen/essen kann, weil er/sie soviel Angst hat.
Heißt: Lehrer, Erzieher, Jugendleiter…haben eine immense Verantwortung und vor allem eine entscheidende Funktion beim Zulassen oder Verhindern von Mobbing. Schulen sind in der Pflicht, durch Präventionsarbeit zum einen für ein gutes Klima zwischen Lehrern und Schülern und Schülern und Schülern zu sorgen. Sie müssen aber gleichzeitig wachsamen Auges beobachten, was passiert.
In vielen Fällen werden sie Mobbing dennoch nicht mitbekommen, weil viele Dinge so subtil passieren, dass sie auch offenen Lehreraugen verborgen bleiben. Gerade bei Internet-Mobbing stehen Lehrer öfter außen vor. In jedem Fall sollten sie immer wieder dazu ermutigen, dass Opfer sich ebenso Hilfe holen können, wie Schüler, die Mobbing beobachten, aber es nicht wagen, selbstständig zu intervenieren.
Das funktioniert nach meiner Erfahrung dann am besten, wenn die Interventionsmethode ohne Schuldzuweisungen und Bestrafungsaktionen passiert, sondern stattdessen Möglichkeiten zur Integration und Wiedergutmachung bietet, bei denen auch die Täter ihr Gesicht nicht verlieren. Bei der von mir verwendeten Methode des „no blame approach“ liegt die Erfolgsquote zwischen 70 und 85 Prozent - mehr als bei jedem anderen mir bekannten Ansatz.
Die größten „Störfaktoren“ dabei sind übrigens nicht selten die Eltern der Opfer, die unbedingt Köpfe rollen sehen wollen und es ihrem Kind durch ihre eigene Abwehrhaltung unmöglich machen, sich mit dem Täter zumindest soweit auszusöhnen, dass eine friedliche Koexistenz möglich ist.
Schöne Grüße,
Jule