in die 19.Jhdt-Kiste muß man gar nicht greifen
Hallo Ralf,
nun muß ja sicher Dieter Graumann nicht unbedingt als ein Exponent für die Kategorie „jüdische Gelehrsamkeit und intellektuelle Brillanz“ bewertet werden. Er steht halt in den Charts der Medien-Front und hat sicher auch keine Kompetenz in kontroversen Themen der Midrashdiskussion. Er ist Exponent ebensowenig wie die Richter des LG für die Rechtstheorie und Rechtsphilosophie in Deutschland. Exponent dieser Art ist ja auch nicht die pfauenhaft-clowneske Rhetorik eines Sloterdijk für die deutsche Philosophie oder die kindisch-populistische Stammtischrhetorik eines Harald Lesch für die Physik.
Insofern mache ich mir keine Sorge um ein Fehlen intellektueller Brillanz, auch bzgl. dieses Themas nicht, ebensowenig wie es ein Emil Fackenheim, ein Jacob Taubes oder eine Evelyn Goodman-Tau tun würde.
Um so befremdlicher, auch in historischer Vogelperspektive, nehme ich wahr, wie bei einem an sich uralten kontroversen Thema (du pointierst es ja ebenfalls) das unter der Oberfläche der Zeitgeschichte weste, aus dem Uterus der Öffentlichkeit religiösen und antireligiösen und nicht-jüdischen Laientums urplötzlich, so als sei das was Neues, eine unübersehbare Menge von „Fachleuten für jüdische Ritualik“ entspringen.
Meine psychoanalytische Zweitnatur lacht sich dabei ins Fäustchen, und täte das auch laut, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Abgesehen davon ist es noch eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen, daß das Gerichtsurteil ja nicht etwa in Usbekistan oder Arkansas gefallen ist, sondern in Schland. Aber das Faß mach ich hier nicht auf, obwohl es das richtige Brett dafür wäre.
Es ist nämlich nicht so, daß bei dem Thema Argumente gegen die Beschneidung etwa nicht gewußt würden, so also, daß man es nötig hätte, auf Reformbewegungen des 19. Jhdts zurückzugreifen. Die ameriaknischen Bewegungen haben ja ebenfalls → dieselben Argumente, auch wenn sie mutmaßlich weder Abraham Geiger noch (den viel bedeutenderen) Samuel Holdheim studiert haben.
Nebenbei bemerkt: Holdheim wird sehr wohl in der Judaistik auch gegenwärtig studiert. Um nur ein Beispiel zu erwähnen:
http://www.ralphbisschops.info/holdheim%20polemik.PDF
Immerhin hatten seine Bemühungen, den Talmudismus vom Judaismus historisch abzuschälen, beinahe zu einem Schisma geführt (Reformverein Frankfurt usw.). Aber Holdheim ist ein Gesamtpaket, für dessen historischen Verlauf ins vorläufige Aus es, wie du ja auch sagst, viele schillernde Aspekte gab. Aber auf diesem Gesamtpaket ist das Thema „Beschneidung“ (und Holdheims Argumentation dazu) lediglich eine Briefmarke. Eine, die man ohne Aufwand neu drucken kann.
Auf ausgerechnet ihn also als Argumentevorrat zurückzugreifen, hieße, mit einem Elefanten eine Mücke aus dem Schlafzimmer vertreiben zu wollen. Zumal seine Beschneidungsargumente derartig naheliegend sind, daß sie auch heute von Menschen gepflegt werden (siehe oben als Prototyp), die seine intellektuelle Brillanz nicht teilen. Nur das Gewicht und die Zutrefflichkeit dieser Argumentionen gewinnen halt (zumindest bis heute) keinen Konsens.