Hallo Elimelech,
vorab, ich gebe zu, das führt hier etwas weg von der ursprünglichen Frage, aber es erscheint mir sehr interessant.
Ich versuche zu verstehen - gottfreier Raum, sowas kann es
doch sowieso nicht geben, denke ich (egal ob jüdisch oder
christlich) „gottfrei“ doch nur insofern, als dass er uns die
Entscheidung überlässt (auch wenn er doch schon weiß, wie wir
uns entscheiden würden…
Eben nicht. Er weiss es nicht, weil ansonsten Er diese
Entscheidung schaffen würde, wie eben alles andere. Dadurch
wäre der freie Wille eine Illusion. Nein, ich meinte dieses
schon analog, dass G’tt sich hier zurück ziehen muss, eben
nicht mehr Er diese Entscheidung schafft, sondern wir. Dadurch
entsteht ein „gottfreier“ Raum.
Ok. - Du siehst das offenbar anders als Ruth Lapide, aber seis drum - so oder so gehst Du wie ich von freiem Willen aus (wohl wissend, dass viele führende Naturwissenschaftler hier ein Problem sehen, aber ohne freien Willen, denke da sind wir uns einig, ist weder Judentum noch Christentum denkbar)
und Gott hat
hierzu „Stellung genommen“ soll heißen, er hat mit den Geboten
eigentlich schon gesagt, wie man sich entscheiden müsste? Ist
bei allen kleinen wie großen Entscheidungen in unserem
(modernen) Leben immer so klar, was Gott dazu sagen würde und
wie die Gebote im übertragenen Sinne anzuwenden sind?
Nein, darum gibt es hier im Judentum eine lebhafte
Diskussionskultur darüber und diese fülle in jedem jüdischen
Haushalt ganze Bücherwände. Die Idee dabei ist allerdings
schon, dass Er auf jede Frage schon eine Antwort gegeben hat.
Allerdings ist dieses von christlichem Hintergrund sicherlich
unverständlich, da ich dort keine auch nur annähernd
vergleichbare Diskussion kenne.
Ich kann mich eigentlich auch nur wundern, warum es nicht viel mehr Diskussionen darüber bei Christen gibt…
Kannst Du bitte „Alles andere“ definieren- ich verstehe es
nicht.
Nach der jüdische Lehre liegen nur die Gebote im Bereich der
freien Entscheidung. Alles andere ist von G’tt geschaffen und
im übertragenen Sinne „vorbestimmt“. Welchen Text ich hier
schreibe z. B., dass ich ihn schreibe, dass ich dieses Forum
mitlesen. Hier floss mein freier Wille nur ganz selten mit
ein. Aber Kommunikation ist ein Berich mit vielen Geboten,
darum ist es vielleicht besser hier z. B. Kleidung als
Beispiel zu nehmen. Was wir diesen morgen angezogen, entzieht
sich unserem freien Willen.
Denke Du hast hier einen wichtigen Hinweis gegeben (Du oder wer auch immer denn je nach Auslegung ist eben sehr vieles in unserem Leben von Geboten bestimmt. Wenn mans auf die Spitze treiben will, fast alles (zumal wenn man Unterlassungen und Prioritäten mit einbezieht). Das merkst Du, wenn Du über Kommunikation nachdenkst oder auch - je nach Sichtweise - auch wenn man über viele Bereiche des Lebens nachdenkt.
Und „kleiner Bereich“ heißt, es gibt nur einen kleinen Bereich
in unserem Leben, der dem freien Willen unterliegt?
Ja. Allerdings hängt dieses von der Person selber ab. Was für
den einen eine freie Entscheidung ist, ist für den anderen von
G’tt so geschaffen und entzieht sich dadurch dieser Freiheit.
Wenn ich allein neben den Geboten an all die anderen Vorschriften in Talmud und Tora nachdenke, zu deren Einhaltung ja freier Wille notwendig ist, was bleibe denn da noch ungeregelt? Zumindest zur damaligen Zeit war doch fast alles geregelt. Ist dann nicht freier Wille ein ganz großer anstatt ein ganz kleiner Bereich?
Das ich nicht stehle, ist meine Erziehung, meine Herkunft,
mein Umfeld, dass der Dieb stiehl, ist sein Umfeld, seine
Erziehung. Wir beide, denken in der Regel nicht darüber nach.
Und nur wenige sind hier frei, einen Diebstahl zu begehen oder
es zu lassen.
Und nun wird es spannend. Alles Unbewusste UND Gewohnte UND
Triebhafte (diese drei Bereiche sind ja nach meinem
Verständnis keineswegs Deckungsgleich) unterliegt NICHT
unserem freien Willen?
Ja.
Und ist deshalb KEINE Sünde nach jüdischem Glauben?
Ja, allerdings besteht hier auch ein etwas anderer Begriff von
Sünde. Aber im Beispiel mit dem Dieb gilt: Wir sollen nicht
verurteilen, denn wir sind nicht an seiner Stelle.
Ja und Verstehe ich das richtig? Dass das
Unbewusset nicht (zumindest nicht direkt) dem freien Willen
unterliegt, ist selbstredend. Aber das Gewohnte - da habe ich
Probleme und das Triebhafte - naja hier gibt es eine große
„Grauzone“ oder?
Ein Tier hat nach der jüdischen Lehre keinen freien Willen.
Vielleicht grenzt dieses schon etwas mehr ein? Alle unsere
„tierischen“ Verhaltensweise dementsprechend eben auch nicht.
Aber bei „Abhängigkeiten“ stellt sich schon die Frage, ob wir
es uns nicht zu leicht machen - oder? Grundsätzlich bin ich
aber auch bei Dir, dass es - wie im juristischen Sinne -
Handlungen geben kann in denen der Mensch aus religiöser Sicht
„unzurechnungsfähig“ ist. Wir sollten es uns sicher nicht
allzuleicht mit uns machen, wo diese Grenze liegt - oder wird
das im Judentum anders gesehen?
Hierzu sollte man sich vielleicht einmal vor Augen halten,
dass zu Zeiten eines Sanhedrins, auf doch einige Übertretungen
die Todesstrafe galt. Und eine ungerecht ausgesprochene
Todesstrafe verdient selbst wieder die Todesstrafe. Und auch
wenn kein Sanhedrin mehr die Todesstrafe verhängen kann, G’tt
tut es weiterhin. Wie leicht sollte man es sich hier also
machen, jemand als Sünder anzusehen?
Noch unklarer sind für mich Deine Ausführungen zum Berufsdieb.
Keine Sünde oder verstehe ich einfach ganz falsch?
Ich sprach hier vom freien Willen und nicht von Sünden und
Vergehen.
Sorry, aber nicht klar für mich. Wenn der Dieb nicht aus freiem Willen stiehlt (was Du ja oben so gesagt hast), dann ist es auch keine Sünde, denn wie könnte es Sünde sein, wenn er keinen freien Willen hat? Du sollst nicht stehlen ist ja ein Gebot. Zum fehlenden Unrechtsbewusstsein weiter unten, denn haben alle Diebe keinen freien Willen??
Und die großen Fragen nicht?
Welche grossen Fragen? Stiehl der Dieb weil es dieses bewusst
vorher so entschieden hat oder einfach weil dieses sein
Lebensunterhalt ist, selbst wenn er weiss, dass es nicht
rechtens ist? Sind wir was wir sind, weil wie dieses selbst
frei entschieden haben? Wenn jemand auf einmal fromm wird, ist
es seine eigene Entscheidung?
Hier merke ich noch einmal an, ich habe es nebenbei
geschrieben, aber vielleicht hilft es beim Verständnis, dass
nach der jüdischen Lehre, G’tt alles schafft. Es ist nicht so,
dass es am Beginn eine Schöpfung gab und Er sich dann
ausruhte. Nein, er ist dieses alles am schaffen. Es ist Sein
Wille welche dieses tut und auch wir, unser Handeln, unsere
Entscheidungen, alles wird ständig von ihm miterschaffen.
Alleine der kleine Bereich unseres freien Willens, ist ausser
Ihm. Darum sprach ich hier von „g’ttlos“ bzw. „g’ttfrei“.
Zum Abschluss noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen dazu, insbesondere warum es mir so wichtig ist.
Ich habe kürzlich hier im Forum ausgeführt, dass es m.E. durchaus vorstellbar ist, dass auch Menschen, die aus „besonderen Gründen“ nicht an Gott glauben können oder die aufgrund von „besonderen Umständen“ Unrechtes tun trotzdem die Erlösung finden können.
Zum einen gebe ich Dir Recht, dass uns ein abschließendes Urteil darüber nicht zusteht. Das kann nur Gott und es unterliegt seiner Gnade. Was allerdings nicht sagt, dass wir uns angesichts auftretendem Unrechts heraus halten sollten. Wir sind dann m.E. verpflichtet, den Handelnden über sein Unrecht zu informieren. Wir nehmen ihm unter Umständen (auch hier steht uns ein Urteil nicht zu) damit seine „Gutgläubigkeit“. Er kann (unter Umständen) SO nicht guten Gewissens weiter machen.
Gott berücksichtigt Umstände. Das war mir wichtig. Das können Gene/Triebe sein, das können schlimme Kindheitserfahrungen sein, das kann „Unzurechnungsfähigkeit“ sein. Also auch Sucht mag eine Rolle spielen. Aber das ist KEIN Freibrief. Die Latte hängt da nehem ich an doch eher hoch. Selbstkritisch sollte man dazu sein. Wir sind aufgerufen, Unheil zu verhindern und allen Beteiligten zu helfen, auf Unrecht hinzuweisen, aber wir können nicht verurteilen. Das kann nur Gott. Daher waren mir Deine Anmerkungen hier wichtig.
Trotzdem scheint mir hier die Latte von Dir etwas zu niedrig zu liegen (wir alle sollten sie für uns sehr hoch hängen - Gerechtigkeit nicht mit Selbstgerechtigkeit verwechseln - Wissen zerstört Gutgläubigkeit). Und das was nach Gottes Willen Unrecht ist sollte natürlich nicht mit dem was wir Menschen beurteilen sollten, vermischt werden.
Dein Beispiel der Dieb. Du sollst nicht stehlen. Ein Gebot. Ich kann mir vorstellen, dass es Umstände (Vernachlässigung, erfahrene Gewalt, anderer Kulturkreis, Unzurechnungsfähigkeit etc) gibt, die einen Diebstahl für Gott entschuldbar machen. Wir kennen auch Mundraub um zu überleben und kennen auch die klassische Robin Hood Mentalität in herrschendem Unrecht sich Recht „zu verschaffen“.
Aber schlicht Gewohnheit oder Beruf(ung) dazu zu zählen erscheint mir doch etwas zu einfach. Wohlgemerkt nicht als Urteil des Menschen über Menschen sondern was wir als Maßstab Gottes annehmen können.
Entsprechend denke ich sollte es sich mit anderen Handlungen verhalten, die nicht im Sinne Gottes sind.
Gott kennt die Umstände, es liegt in seiner Hand. Er allein berücksichtigt die Umstände und er wird kein („irdisches“) Dogma als seine die Umstände würdigende Gerechtigkeit bei seinem Urteil zugrunde legen. Es ist unsere Pflicht Unrecht zu verhindern und auf Unrecht nach vermeintlich Gottes Maßstäben hinzuweisen.
Auch wenn mir manches von dem, was Du geschrieben hast, doch zu „liberal“ (oder zu wenig differenziert) erschien, was mich ehrlich gesagt bei einem (orthodoxen?) gläubigen Juden sehr überrascht hat, bin ich Dir doch dankbar für den Hinweis, dass es offenbar Überzeugungen gibt (geltende jüdische Überzeugung?), die davon ausgehen, dass Gottes Urteil, ob es Erlösung für einen Menschen gibt, Lebensumstände angemessen (eben „gerecht“) berücksichtigt.
Schönen Gruß von
ikarusfly