Hallo zusammen!
Ich bin Lehrer an einem Gymnasium und vor wenigen Tagen hatte ich ein Schreiben in meinem Fach, das mir vorkam, wie aus längst vergangenen Tagen: Es war eine Einladung zu einer Tagung, auf der darüber diskutiert werden sollte, wie man Mädchen mehr für technische Berufe und Studiengänge begeistern könnte. Ich fand, dass diese Tagung völlig an der Realität vorbei geht. Ich sage gleich warum, und mich würden sowohl Eure persönlichen Meinungen als auch Eure fachlichen Argumente dazu interessieren.
Jungen sind das vergessene Geschlecht. Seit Jahren (vor allem in den 80ern und 90ern) wurde und wird nach Ursachen für das vergleichsweise schlechte Abschneiden von Mädchen speziell in Physik gesucht. Mädchen, die in anderen Fächern vergleichsweise gut seien, schnitten in Physik signifikant schlechter ab als die Jungen. Allerdings ist die Schulwirklichkeit ja eine andere: In Deutsch, den Fremdsprachen und den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern schneiden Jungen ebenso signifikant schlechter ab als Mädchen, ohne dass hier irgendjemand eine Benachteiligung der Jungen vermutet. Die Schüler, die schulische Probleme haben, sind mehrmeitlich männlich. Wäre daher nicht die natürlichere Frage, ob unser Bildungssystem Mädchen einseitig bevorzugt?
Der Fächerkanon und die Bildungspläne sind weiblich. Physik wird als Jungendomäne wahrgenommen. Mathematik spricht beide Geschlechter etwa gleichermaßen an. Alle anderen Fächer sind eher auf die Mädchen zugeschnitten als auf die Jungen. Themen die Jungen interessieren und Bereiche, in denen sie sich profilieren können, gibt es in der Schule praktisch nicht, mit Ausnahme von Physik und Sport. Daher müssen Jungen - wenn sie in keinem dieser beiden Fächer besonders begabt sind - zwangsläufig ihre Bestätigung außerhalb der Schule suchen.
Technik - als eigenständiges Schulfach - gibt es an Gymnasium nicht. NwT, das in BaWü neu eingeführt wurde, ist nicht wirklich „Technik“-Unterricht, weil weder handwerkliches Arbeiten noch Tüfteln und Konstruieren im Vordergrund stehen. (Zumindest in der Realität nicht - aber das ist ein anderes Thema!)
Wenn man tatsächlich echt technische Inhalte ausprobiert, stellt man plötzlich einen frapierenden Unterschied in der Lerngeschwindigkeit von Jungen und Mädchen fest. Viele würden darin sofort erkennen, dass dieses Thema für Mädchen ungeeignet sei, und befürchten, dass es dem Grundsatz der Gleichbehandlung widerspräche. Aber ist das tatsächlich so? Hat jemals einer gefragt, ob die Chancengleichheit im Fach Französisch gegeben ist?
Es fehlen Identifikationsfiguren. Lehrer sind heute in der Mehrheit Frauen. In der Grundschule sind es nahezu ausschließlich Frauen. In den 80ern und 90ern sah man eine Ursache für das Desinteresse von Mädchen am Fach Physik, dass Physik-Lehrer häufig Männer sind. Wenn das stimmt: Wen wählen sich dann Jungen heute als Identifikationsfiguren?
Vom „Entweder-Oder“ zum „Sowohl-Als-Auch“. Nach meiner Beobachtung schätzen Jungen Situationen, in denen es klare Gewinner und Verlierer gibt. Etwas ist entweder richtig oder falsch. Und darüber gibt es keine Diskussion. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde aber immer mehr vernetztes, abwägendes und differenzierendes Denken (um es positiv auzudrücken) eingefordert. Ich glaube, dass Jungen diese Denkweise als Orientierungslosigkeit wahrnehmen, oder selbst die Orientierung verlieren, jedenfalls mehr als Mädchen. Auch wurde immer mehr Wert auf „Softskills“ gelegt. In vielen Bereichen scheint das Präsentieren und das Kommunizieren wichtiger zu sein, als das Wissen und das Können.
Daher mein provozierendes Fazit (in der Hoffnung auf einen fruchtbaren und kontroversen Meinungsaustausch):
"Wenn man sich nach den Mädchen richtet, dann ist das auch für die Jungen richtig, umgekehrt aber nicht.“ (Wagenschein)
ist zu ersetzen durch:
„Wenn man sich nach den Jungen richtet, dann ist das für alle richtig.“
Michael
P.S.: Bevor Ihr mich falsch versteht: Ich bin durchaus der Meinung, dass Mädchen in „typischen Jungenbereichen“ hervorragende Leistungen bringen können, und dass es nur zu begrüßen ist, wenn sie sich dafür begeistern können. Von daher finde ich es sinnvoll, dass im Zuge der Emanzipation Rollenklischees hinterfragt wurden und Hürden zum Teil abgetragen wurden. Aber ich glaube, dass in den letzten 20 Jahren das größere Problem übersehen wurde.
Die Quittung dafür ist ein Ingenieurmangel und ein Psychologen-Überschuss.