Du gehst ja irgendwie davon aus, dass man bei Bedarf die Luecken
;schliessen kann. Das ist gerade nicht so. Wer in der Schule aus
welchen Gruenden auch immer im Laufe eines Halbjahres nicht
gelernt hat, was eine Ableitung und ein Integral ist, kommt als
Student in die Mathe-Vorlesung …
ich war in der Schule bis zur 9. Klasse in Mathe ziemlich gut, dann habe ich wohl irgendwas Wesentliches verpasst, und ab dann ging es bergab. Ich habe nie wieder alles so richtig verstanden. Und ich denke, dass ist genau das Problem an Schule (besonders bei solchen Fächern wie Mathe): Wenn man etwas verpasst, etwas nicht versteht, dann fällt man immer wieder in dieses Loch, diese Lücke hinein, weil alles eben aufeinander aufbaut. Dem Lehrer, und auch dem Schüler, ist die Lücke zum Zeitpunkt des Entstehens aber nicht aufgefallen, und sie wird dann nachher auch nicht geschlossen, weil es ja immer weiter geht.
Sowas kann man bei Homeschooling ziemlich leicht lösen. Man kann noch mal zurückgehen, und noch mal zurückgehen, bis es wirklich begriffen wurde, und erst dann geht man weiter.
Es gibt in Büchern zahlreiche Berichte von Mathelehrern, die mit Schülern privat noch mal ganz weit zu den Grundlagen zurückgegangen sind, weil da einfach riesige Defizite waren. Nur so was leistet die Schule eben nicht.
Abhilfe schaffen da vielleicht manchmal die florierenden Nachhilfeunternehmen. Aber irgendwie ist es doch eine Bankrotterklärung der Schule, wenn sie nicht funktioniert ohne Leute, die ständig nachbessern (wie es wohl aussähe, wenn alle Nachhilfeinstitute morgen schließen würden?).
Bei Homeschooling hat man individuelle Aufmerksamkeit. Ich kenne nicht wenige Unschooler und Homeschooler, die sich einen privaten Mathelehrer organisiert haben. Oder die sich ein Lehrbuch gekauft haben und noch mal alles durchgegangen sind.
Bologna-Reform wird ja (meiner Meinung nach zurecht) u.A.
kritisiert, dass sie „Fachidiotentum“ beguenstigt und letzten
Endes Arbeitstiere produziert, die am Ende wissen, wie man eine
Schraubverbindung berechnet, aber nicht wissen, wer der aktuelle
Bundespraesident ist
Ein gewisses Fachidiotentum gibt es überall, bei Beschulten und Unbeschulten. Ich glaube, es bleibt Menschen gar nichts anderes übrig, als sich zu spezialisieren. Bei den Unschoolern, die ich kenne, merke ich aber meistens, dass sie viele und breite Interessengebiete haben. Sie haben sich im Laufe ihres Lebens mit vielen Themen beschäftigt. Wenn die Weimarer Republik nicht drin vorkam, dann nennen sie das Mut zur Wissenslücke. Aber diese Wissenslücke haben auch Schüler, die die Weimarer Republik durchgenommen und wieder vergessen haben.
Es gibt ja immer mal wieder so Umfragen, und es kommt dann dabei heraus, dass achtzig Prozent der Befragten nicht solche Fragen wie: Wo liegt der Pazifik, wie war das noch mal mit Bundesrat und Bundestag, warum feiern wir Ostern? beantworten können. Und das in einem Land mit rigider Schulpflicht. Da muss doch irgendetwas grundverkehrt sein mit der Art, wie entweder gelehrt oder gelernt wird. Die Leute, die das nicht wissen, wussten es aber vielleicht irgendwann mal, nämlich an dem Tag, an dem die Klausur geschrieben wurde. Und so kommt man dann mit relativ guten Noten durch die Schule, aber am Ende bleibt unterm Strich nicht viel übrig.
Mich überzeugt Freilernen deshalb, weil ich auf meine Schulzeit zurückblickend – und das mit durchgängig guten Noten – sagen kann, dass eigentlich nur das übrig geblieben ist, für das ich mich interessiert habe. Das geht anderen vermutlich nicht anders. Aber das, was ich neben der Schule und nach der Schule aus eigenem Antrieb und nach eigenem Interesse gelernt habe, ist immer noch da oder kann ganz leicht „reaktiviert“ werden.
Ich wäre ja dafür, dass man Schulen einfach öffnet wie Bibliotheken, dann würde sich die Frage nach Freilernen oder Schule wahrscheinlich gar nicht mehr stellen, weil man dann in der Schule freilernen könnte. Man trägt sich für Themen ein, die einen interessieren, und merkt dann, wenn man sich z.B. für Bio eingetragen hat, ohh, ich brauche den Dreisatz, dann sucht man sich einen Lehrer, der einem den Dreisatz erklärt, oder schließt sich einer Lerngruppe an, die sich gerade damit beschäftigt. Ein Themengebiet führt doch eh zum nächsten, das Leben ist ja nicht in Fächer unterteilt, was man eben ganz leicht an dem Beispiel sieht, dass man für Bio auch Mathe braucht. Wenn ein Schüler etwas nicht versteht, Fehler macht, wäre das kein Anlass für eine schlechte Note, sondern dafür, dass sich ein Lehrer noch einmal mit ihm hinsetzt und ihm das Ganze noch mal von den Grundlagen an erklärt. Es ist ja sowieso ein großes Übel der Schule, dass Fehler praktisch bestraft werden, durch schlechte Noten, und nicht als Anlass genommen werden, sich noch mal an die Grundlagen zu setzen.
Übrigens habe ich mal in einem der zahlreichen John-Holt-Bücher gelesen, dass Mathelehrer gute Erfahrungen damit gemacht haben, ihre Schüler sehr lange Jahre mit Mathe völlig unbehelligt zu lassen und erst mit 11 oder 12 Jahren so richtig mit Mathe angefangen haben. Mit viel besseren und schnelleren Ergebnissen. Die Schüler haben schneller und vollständiger kapiert, um was es geht, als die Schüler, die schon seit dem sechsten Lebensjahr mit Mathe getriezt wurden. Da gilt also anscheinend nicht, je eher desto besser, sondern eben das genaue Gegenteil. Ich finde die Einschulung mit sechs auch viel zu früh, weil ich glaube (und das glaube ich u.a. auch nach dem Lesen der Bücher von Joseph Chilton Pearce), dass Kinder eine ganz lange Spielgrundlage, also Spielphase brauchen, um nachher schnell und besser Sachen verstehen zu können (solche Möglichkeiten hat man dann eben auch beim Freilernen).
Ich finde es bei der Schule auch ein Unding, dass alle Schüler zur selben Zeit dasselbe verstehen sollen und auf demselben Stand sein sollen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, und darum funktioniert Schule einfach nicht. Die Langsamen haben es immer noch nicht verstanden, und die Schnellen wollen nicht die dreißigste Übungsaufgabe lösen, weil sie es schon nach der ersten verstanden haben. Manche Leute lernen auch so, dass sie sich einem Thema zuwenden, es nicht verstehen, es beiseite legen, sich etwas völlig neuem zuwenden, nach Monaten wieder zum ersten Thema zurückkehren, und es, oh Wunder, auf Anhieb verstehen. Irgendetwas scheint da im „Untergrund“ gearbeitet zu haben. Solche Möglichkeiten bietet einem die Schule auch nicht, da muss man linear verstehen, denn es geht auf die Klausur zu. Beim Freilernen geht so etwas, und vollkommen freie Schulen böten solche Möglichkeiten auch. Man geht aus der Projekt/Lerngruppe einfach wieder raus und versucht es ein halbes Jahr später noch mal.
Ich glaube also, dass das Lernen, oder „Bildung ansammeln“ gar nicht so sehr eine Frage der Lust (das natürlich auch), aber vor allem eine Frage dessen ist, ob man so lernen darf, wie man will. In der Art und Weise und dem Tempo, das einem liegt. Oft lernt man ja in Blöcken. Beschäftigt sich ganz lange mit einem Thema, und geht dann erst zum nächsten. Dass solche intensiven Lernphasen vom 45-Minuten-Rhythmus der Schule völlig ausgehebelt werden, ist ja jedem klar.
Übrigens nehme ich kleine Kinder bei Dingen, die sie noch nicht so gut können, als sehr hartnäckig wahr. Die versuchen es so lange immer wieder, bis es klappt. Warum geben Schüler dann bei Dingen, die ihnen nicht so leicht fallen, auf? Weil sie schlecht bewertet werden, zuviel Druck, zu wenig Zeit? Sie verlieren meiner Meinung nach diese bei kleinen Kindern ganz ausgeprägte Hartnäckigkeit sich auch mit schwierigen Sachen auseinander zu setzen.
Ich glaube übrigens auch nicht, dass sich ein Kind wirklich dazu entscheiden würde, nicht schreiben können zu wollen. Wir sind von Schrift umgeben, kein Kind würde allen Ernstes sagen, ne, habe ich keinen Bock drauf. Die wollen das lernen, was sie umgibt und womit sich Erwachsene beschäftigen, die wollen wissen, „was da steht“, schon die Kleinsten.
Wenn ein Kind dann nicht lesen gelernt hat, dann bestimmt nicht, weil es keinen Bock dazu hatte, sondern weil es vielleicht zu früh damit „belästigt“ wurde (es gibt Freilerner, die lernen erst mit 11 Jahren lesen, lesen dann mit 12 aber schon besser als ihre beschulten Altersgenossen, und sind auch nicht in die Verlegenheit gekommen, durch ihr nicht-lesen-können ins Hintertreffen zu geraten, weil beim Freilernen das weitere Lernen ja nicht unbedingt aufs Lesen können aufbaut (man kann ja immer noch die Eltern fragen), während die Schule darauf setzt, dass die Kinder ziemlich früh lesen können, damit sie die ganze „Stillarbeit“ und die Hausaufgaben etc. machen können. Wer da nicht lesen kann, versteht nicht mehr ganz viel, und verliert in allem den Anschluss.
Du fragst danach, wo ich die Grenze ziehe. Die ziehe ich für jedes Kind individuell. Niemand muss in einem bestimmten Alter irgendwas können, jeder darf nach seinem Entwicklungsstand lernen.
Bei einer vollkommen freien Schule sähe das dann so aus, dass in der „Dreisatzgruppe“ 11-jährige und 16-jährige sitzen.
Und was ist schlimm daran, wenn man erst mit 30 lernt, was die Weimarer Republik gewesen ist, weil man erst dann feststellt: oh, da habe ich eine Lücke.
Es kommt doch wirklich darauf an, dass man dann immer noch Lust zum Lernen hat und nicht durch „Zwangs-Geschichtsstunden“ und zig Jahreszahlen so abgeschreckt ist, dass man lieber um alles einen Bogen macht, was nach Geschichte aussieht.