Die Urteilsbegründung (lt. Pressemitteilung) der Richter hebt
nur die Abwägung Recht auf körperliche Unversertheit vs.
Religionsfreiheit / Erziehungsrecht ab.
Das Urteil (http://goo.gl/7sjDv) stellt auch auf das
Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 GG) ab.
Danke, das führe ich mir mal in Ruhe zu. Ich hatte halt nur besagte Pressemitteilung gefunden.
Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass oft Dinge, die
eigentlich unerträglich sind, schlicht aus Gewohnheit lange
akzeptiert und gar nicht hinterfragt werden. Es ist das Recht
und auch die Pflicht eines jeden Gerichts, den zur Beurteilung
gestellten Sachverhalt „richtig“ und nicht etwa
gewohnheitsmäßig zu beurteilen.
Auf der anderen Seite weisen deine Beispiele mehr Unterschiede
zur Beschneidung eines Jungen auf als nur das Motiv. Einmal
ganz abgesehen davon, dass ein Piercing womöglich weitaus
weniger in die körperliche Unversehrtheit eingreift als eine
Beschneidung, haben wir es hier regelmäßig mit einer ganz
anderen Altersklasse des Betroffenen zu tun. Kein Vierjähriger
bittet seine Eltern ernsthaft um eine Schönheits-OP, und ich
habe auch noch nie von Eltern gehört, die ihr Kind zwingen,
sich ein Tattoo stechen zu lassen. Wenn sie das täten, würden
sie sich wohl ohne weiteres strafbar machen. Wenn aber der
Wunch von dem „Kind“ ausgeht, das ja in aller Regel schon
jugendlich ist, ist das etwas ganz anderes.
Überraschen wird dich vermutlich, dass es insbesondere in den
üblichen Piercing- und Tattoo-Fällen gar nicht so sehr auf die
Eltern ankommt. Denn die Wirksamkeit der Einwilligung hängt
jedenfalls im Strafrecht von der (tatsächlichen)
Einsichtsfähigkeit des Betroffenen ab und nicht etwa von der
Volljährigkeit.
Nun argumentierst du aber hier mit der Üblichkeit, die du oben noch als Entscheidungskriterium ausgeschlossen hast. Und wieso auch in dem Zusammenhang nur die Einsichtsfähigkeit der Betroffenen.
Nur, weil es bisher nicht üblich war, dass in Bezug auf Piercing derartig geklagt wird, heißt das ja nicht, dass es nicht passieren könnte. Wenn eine Dreijährige ein Piercing oder gar mehrere bekommt, besteht mindestens mal das Risiko der Infektionsgefahr, weitere Risiken inklusive. Und von Einsichtsfähigkeit kann bei einem Kindergartenkind wohl kaum gesprochen werden.
Abseits der juristischen Bewertung erscheint mir nämlich die
Diskussion hierzu ein wenig heuchlerisch, weil sie im Grunde -
so scheint es mir - Stellvertreterdiskussion ist. Es geht gar
nicht so sehr um die Körperverletzung eines „unschuldigen“
Kindes.
Ich lese bei dir allerdings heraus, dass du auch die
juristische Bewertung durchaus heuchlerisch findest.
Das liest du ausdrücklich falsch heraus! Ich habe nicht umsonst geschrieben „abseits der juristischen Bewertung“. Es gilt das geschriebene Wort und nur das
Es ist ja nicht gesagt, dass ein
Richter, der das eine für strafbar hält, das andere für
erlaubt halten würde.
Genau deshalb habe ich das Argument ja auch abseits der juristischen Wertung gebracht. Dies bezog sich dann schon auf die gesellschaftliche Diskussion, die ich für heuchlerisch halte, daher auch die später angeführten Beispiele. Konkret im Rahmen der Einwilligung empfinde ich es bspw. schon als heuchlerisch, dass man sich darüber auseinandersetzt, ob es die Einwilligung beider Elternteile bei einem Piercing des Kindergartenkindes braucht, aber man dieses grundsätzlich nicht in Frage stellt.
Darauf aufbauend aber noch ein weiteres Beispiel, wo wieder die Juristerei ins Spiel kommt: Nämlich die Geschlechtsanpassung von Intersexuellen. Dort wird - so mein Kenntnisstand - zwar „moralisch“ inzwischen diskutiert, das Problem auf das Erwachsenenalter zu schieben, juristisch dann, wenn die Eltern nicht aufgeklärt wurden, aber darüber hinaus nicht. Dabei handelt es sich ebenfalls um einen eigentlich medizinisch nicht erforderlichen Eingriff (jedenfalls sollen diese Fälle jetzt nur gemeint sein), der ganz erheblich in das Persönlichkeitsrecht der Eltern reingeht. Kein Nebenschauplatz, dafür ist das Fass zu groß, das weiß ich. Sondern nur als weiteres Beispiel dafür, dass es um mehr als nur „schönheitsfragen“ abseits der Beschneidung geht.
Vor allem aber glaube ich nicht, dass das Landgericht
Köln von einer straflosen Körperverletzung ausgegangen wäre,
wenn statt der Beschneidung ein Nasenpiercing zu beurteilen
gewesen wäre.
Nicht? Wiederspricht das nicht der o.a. Nichtvergleichbarkeit?
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung würde den Weg
freimachen für eine Klage oder ggf. eine Verfassungsbeschwerde
vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das Landgericht hätte das BVerfG
anrufen können, hat es aber nicht.
Das konnte es auch nicht. Denn dafür hätte es ein
(entscheidungserhebliches) Gesetz für verfassungswidrig halten
müssen (Art. 100 GG), was es nicht getan hat.
Was ich im Übrigen an dem
Urteil wirklich ganz besonders Gaga finde: Einerseits
verurteilt man den Arzt nicht mit Verweis auf Verbotsirrtum,
andererseits legt man nicht die Grundlage für eine juristische
Lösung, die aus dieser Rechtsunsicherheit rausführt.
Und was hätte das Gericht tun können, das du nicht „gaga“
findest? Mir fällt nichts ein.
Ich habe nicht zwangsläufig gemeint, dass das Gericht „gaga“ gehandelt hat. Nur finde ich den Zustand jetzt eben für alle Beteiligten richtig unbefriedigend. Was, wenn der Gesetzgeber schnarcht. Ärzte werden -siehe Jüdisches KH in Berlin - sich künftig zurückhalten, weil jetzt ja nun nicht mehr der Verbotsirrtum zählt (nicht, dass ich das bedaure, es geht nur um den halbgaren Zustand)
Nun haben wir erst einmal einen unangenehmen Schwebezustand,
für den aber niemand so recht etwas kann.
Ich hatte gedacht, das Gericht (bzw. andere Beteiligte) hätten Möglichkeiten gehabt, das in Richtung Klarheit zu forcieren. Danke für die Aufklärung, auch in Gänze!